Ellen war dem Mann ins Kreuz gefallen und würgte ihn nun, was das Zeug hielt, mit der Kette, doch er war stark und wehrte sich natürlich. Während er versuchte, sie mit den Ellbogen wegzustoßen, und ihr anschließend den Hinterkopf ins Gesicht knallen wollte, hielt sie ihn weiterhin fest und vereitelte alle Angriffe. Er wurde nun immer röter im Gesicht und ruderte kraftlos mit seinen Armen. Aber Ellen ließ immer noch nicht locker. Cooper zog seinen Schlagstock und schlug Schweineauge damit auf den Kopf. Dieser fiel um, wie ein nasser Sack Zement, bloß rotgefleckt statt Grau. Am Hals, wo die Kette seine Haut aufgerissen hatte, blutete er. Da Cooper eine Delle in seinem Schädel sah, befürchtete er nun, ihn getötet zu haben. Als er sich umdrehte, waren die zwei anderen Männer immer noch auf der Flucht, als gehe es um ihr Leben. Er half seiner Schwester auf und umarmte sie fest. Zugleich spürte er, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte, und kam nicht umhin, zu lächeln. Er wollte sie gar nicht mehr loslassen. Die Erleichterung überwältigte ihn einfach. Egal unter welchen Umständen: Mit seiner großen Schwester fühlte er sich stets viel sicherer. Nach einer kleinen Weile drückte er sie ein Stück weit von sich weg, um sie genauer anzusehen, und bemerkte erst jetzt, dass die Kette mit einem Kabelbinder an ihrem Arm befestigt war. Und die Hand lief bereits blau an.
»Warte, ich schneide sie dir ab.«
»Na, hallo erst mal.« Sie streckte den Arm aus und sah sich um. »Die zwei kommen, glaube ich, nicht wieder. Sie wollten sowieso von White weg.«
»White heißt er, ja?« Nachdem Cooper das Plastikband gekappt hatte, umarmten sie sich erneut.
»Als der hat er sich jedenfalls ausgegeben.« Ellens Stimme brach nun ein wenig. Er konnte immer noch nicht fassen, dass er seine Schwester wirklich gefunden hatte, und haderte weiterhin mit der verbissen verdrängten Vorstellung, was ihr in der Zwischenzeit alles zugestoßen sein könnte. Als er sich eine Träne von der Wange wischte, hoffte er, dass sie es nicht sah. Tat sie aber.
Ellen lächelte Cooper aufmunternd zu. Sie war seinetwegen genauso gerührt und weinte ebenfalls. Schließlich zog sie den Mund kraus.
»Weichei«, flüsterte sie, ohne selber ihre Tränen zurückhalten zu können.
Nun lachte Cooper und fuhr sich über das Gesicht, um die neuen Tränen zu trocknen, die ihm gekommen waren.
»Ich hab nur was in den Augen. Muss an dem verdammten Wind liegen«, verteidigte er sich. »Ich hatte solche Angst, dich nie mehr wieder zu finden.«
»Das verstehe ich.« Sie zögerte. »Ich habe mich auch davor gefürchtet, nach dir zu suchen, weil mir davor gegraut hat, was dir alles hätte passiert sein können.«
Sie hatte sich nämlich das Gleiche vorgestellt wie Cooper – eine schmutzige, nackte Leiche anzutreffen, die vor sich hin schwankte.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Klar.« Sie bemühte sich, auf die Frage genervt zu reagieren, drückte ihren Bruder aber aufs Neue.
Dann stieß sie ihn von sich. »Gott, was bist du für ein Jammerlappen«, empörte sie sich, obwohl sie selber auch noch weinte.
»Halt doch die Klappe«, erwiderte Cooper. Gemeint war aber: Ich liebe dich auch.
Sie standen auf dem Highway 1. Als eine der Hauptfernstraßen führte sie an der Monterey Bay entlang über gewaltige Sanddünen nach Norden und Süden. Stadt und Bucht lagen niedriger als die Fahrbahn, weshalb diese eine beeindruckende Aussicht bot. Der Highway zog sich über die gesamte Halbinsel.
Die beiden stellten nun sich in den Windschatten hinter den SUV.
Ellen legte eine Hand an die Silberkette, die Taffer um den Hals gelegt worden war. Sein Kopf steckte mit dem Bart und seinen langen Haaren komplett in dem Käfig, sodass man nur seine Augen sah, die bernsteinfarben waren, weshalb sie von innen heraus zu leuchten schienen. Wegen des Knebels in seinem Mund nuschelte er, während er Coopers Blick suchte.
Auf einmal hörten sie Rufe. Ellen strahlte glücklich. Sie winkte den drei Gestalten, die aus der Ferne auf dem Highway näherkamen. Bis sie da waren, würden noch mehrere Minuten vergehen. Sie wandte sich wieder an ihren Bruder, dem bereits mehrere Fragen auf den Lippen brannten.
»Was um alles in der Welt ist mit ihm passiert?« Er nickte Taffer zu, wollte aber nicht in seine merkwürdigen Augen schauen. »Wer waren diese anderen Typen … und wer sind jetzt diese dort?«
»Von denen wurden wir vor ein paar Meilen gefangen genommen.« Sie zeigte auf den Mann, der sich White nannte, und drehte sich nach den anderen beiden um, während sie weitersprach: »Sie wollten zu einer Schlossvilla, wahrscheinlich dem Hearst Castle bei San Simeon.«
Dieses Anwesen stand auf einem Hügel, bot einen Blick auf den Pazifik und war von dem Zeitungsverleger William Randolph Hearst erbaut worden. Ein imposantes und prachtvolles Haus und noch dazu weit abgeschieden. Ellen fragte sich, ob es sich nicht tatsächlich vortrefflich als Unterschlupf eignen würde, um dort die Apokalypse auszusitzen. Dieser Gedanke war äußerst reizvoll, doch die Rufe der drei Fremden, die nun eintrafen, störten ihre Überlegungen. Sie drehte sich zu ihnen um.
»Hey, seid ihr uns etwa gefolgt?«
»Natürlich.« Dies sagte eine große, dürre Frau.
»Das ist mein Bruder Cooper«, entgegnete Ellen daraufhin.
»Oh, wir haben schon so viel von dir gehört …«, hob die Unbekannte an, die knapp über dreißig war, doch Ellen fiel ihr sofort ins Wort.
»Ich habe ihr erzählt, was für ein Riesenochse du bist«, witzelte sie.
Karen lächelte daraufhin, denn auch sie hatte große Brüder. Ellens Beschreibungen ihres kleinen Bruders waren in Wahrheit so ziemlich das genaue Gegenteil gewesen. Sie hatten einander wiederholt gut zugesprochen, weil beiden der Verbleib ihrer Geschwister schleierhaft gewesen war. Wenngleich sie sich für Ellen freute, verschlimmerte es aber natürlich ihren eigenen Trennungsschmerz im Zuge des Wiedersehens. Sie hatte bereits vor dem Niedergang der Welt unter Depressionen gelitten und tat sich nun schwer damit, den Willen zum Weiterleben aufzubringen, wenn sie fast ganz allein war. Ellen war diejenige gewesen, die sie stets auf Trab gehalten hatte, aber jetzt, wo diese wieder mit ihrem Bruder vereint war, fühlte ihre Gefährtin, wie ihr Antrieb und ihre Entschlossenheit nachließen. Ihr Ehemann motivierte sie kaum, doch er war ihr zumindest erhalten geblieben, egal wie schwach er letzten Endes auch sein mochte.
»Das sind Karen und Tom, sie waren meine Nachbarn.«
Die beiden hatten stark abgenommen und sahen dementsprechend gebrechlich aus. Vor allem Toms Züge zeugten von Ermattung und Furcht. Vor dem Ende der Zivilisation hatte er sich wie das letzte Arschloch aufgeführt, und war arrogant und herablassend gewesen, wohingegen er nun an einen kleinen Jungen erinnerte, der sich verirrt und die Orientierung verloren hatte.
»Und das da ist Hector. Wir sind erst kürzlich über ihn gestolpert, als wir Watsonville durchquert haben.« Auch er war sehr dünn, ein Lateinamerikaner und nicht älter als Anfang zwanzig mit vielen Tätowierungen.
Cooper schaute ihn argwöhnisch an und deutete mit einer Kopfbewegung auf die tätowierten Symbole.
»Sind das Gang-Abzeichen?«, wollte er wissen.
War Hector mit dem Herzen noch ein Bandenmitglied oder nur noch ein gleich gesinnter Überlebender?
Читать дальше