»Rede mit mir, Pinchas! Wieso sollte jemand Bonasero umbringen wollen? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!« Und wo zur Hölle hast in den letzten drei Jahren gesteckt?
So viele Fragen, auf die es keine Antwort zu geben schien.
»Pinchas!«
Der Attentäter schloss nun die Augen und flüsterte: »Die ehrwürdigen Meister.«
»Wer sind diese Meister, von denen du die ganze Zeit erzählst?« Die Frustration in Kimballs Stimme war jetzt so offenkundig, dass er schließlich von Pater Auciello hinausgeschickt werden musste.
Nachdem sich die Tür hinter ihnen beiden geschlossen hatte, sah Pater Auciello an Kimballs Gesichtszügen, wie der Zorn mehr und mehr die Kontrolle über ihn übernahm.
»Das ist nicht Pinchas«, erklärte der Priester ruhig.
»Natürlich ist das Pinchas.«
»Nein, Kimball. Der Pinchas, den wir kannten, ist verschwunden. Dieser Mann dort drin«, sagte er und deutete auf die Zelle, »ist nur ein Faksimile des Mannes, den wir einst kannten.«
»Was zur Hölle soll das denn nun schon wieder bedeuten?«
»Während der drei Jahre, seit das Flugzeug abgestürzt ist, muss ihm irgendetwas widerfahren sein. Wir waren der festen Überzeugung, dass alle bei dem Absturz umgekommen sind, und das mag wahrscheinlich auch für die meisten von ihnen gelten. Pinchas ist hier, weil ihn jemand ausgesandt hat, Bonasero zu töten, und Pinchas wäre niemals in der Lage gewesen, so etwas zu tun, es sei denn, man hat seinen Verstand vollkommen neu kalibriert.«
Nun dämmerte es Kimball endlich. »Er ist nur noch eine willenlose Hülle.«
Auciello nickte. »Er erkennt Gesichter wieder, er weiß, wer du bist, gleichzeitig verhält er sich aber extrem distanziert und ist auf offensichtliche Weise absolut teilnahmslos. Als die Shepherd One verschwunden ist, befanden sich insgesamt sechs Vatikanritter an Bord. Und sechs Vatikanritter sind eine Macht, mit der man rechnen muss, Kimball.«
»Du meinst, er ist vielleicht nicht allein hier?«
Auciello zuckte mit den Schultern. »Das ist die große Frage, nicht wahr? Schließlich wissen wir nicht, was mit Pinchas oder den anderen an Bord dieses Flugzeugs geschehen ist. Wir wissen nicht, ob sie tot sind oder noch am Leben, oder was ihnen passiert sein könnte. Doch Pinchas Auftauchen löst unweigerlich den Gedanken in mir aus: Wenn einer von ihnen hier ist …«
»… gibt es vielleicht noch weitere«, beendete Kimball seinen Satz.
»Kimball, dort draußen könnten sich noch fünf weitere Vatikanritter befinden, die wie Pinchas von dem Willen angetrieben werden, Bonasero zu töten … und nur diese seltsamen ehrwürdigen Meister, von denen Pinchas die ganze Zeit spricht, kennen den Grund dafür.«
Fünf Vatikanritter, überlegte Kimball schockiert. Fünf der besten Soldaten, die die Welt zu bieten hatte … noch dazu waren sie alle einmal Teil der vatikanischen Familie gewesen. »Wie bringt man es fertig, die eigene Familie auszuschalten?«, flüsterte er, mehr zu sich selbst.
Doch Pater Auciello antwortete ihm trotzdem. »Ganz genau.«
»Aber momentan spekulieren wir ja nur«, wandte Kimball ein.
»Das stimmt. Aber wir dürfen dennoch nicht untätig bleiben. Bonasero ist noch am Leben, auch wenn dieses gerade am seidenen Faden hängt. Wer kann wissen, ob dort draußen nicht noch mehr abtrünnige Vatikanritter lauern und darauf warten, das Werk von Pinchas zu vollenden?«
Mit einem plötzlichen Anflug von Eile sagte Kimball: »Bringt mich ins Gemelli. Sofort!«
Sein Name als Vatikanritter war Mordechai gewesen, einst ein Mann der Tugend und der Rechtschaffenheit. Doch nun war er ein Mitglied des ehrwürdigen Kreises, ein gefallener Engel, so wie Pinchas, ein Mann, dessen Gedanken nicht mehr seine eigenen, sondern die seiner Meister waren.
Die vergangenen Stunden über hatte er in einer Bar in Rom gesessen und den Nachrichten gelauscht. Papst Pius hatte die Operation offenbar überstanden, sein Zustand war aber weiterhin kritisch und er lag noch immer im Koma. Seine Vitalwerte verbesserten sich allerdings, und die nächsten vierundzwanzig Stunden würden darüber entscheiden, ob er am Leben bleiben würde oder nicht. Über den Attentäter erfuhr man zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenig. Der Mann blieb gesichts- und namenlos, während die Medien weltweit fieberhaft nach Antworten suchten.
Im Fernsehen spekulierten die Berichterstatter natürlich und stellten wilde Vermutungen darüber an, dass es womöglich terroristische Vereinigungen mit antichristlichen Weltbildern waren, die hinter dem Anschlag steckten. Mordechai konnte nur den Kopf darüber schütteln, wie schnell die Menschen gewillt waren, einen Täter zu finden, ganz egal, ob dieser nun schuldig war oder nicht.
Während er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und sein Whiskeyglas hin und her schwenkte, empfand er nichts, denn er besaß keinen moralischen Kompass mehr, verspürte keine Angst, keinen Mut und auch keine Traurigkeit … oder irgendeine andere Art von Emotion. Er existierte einfach nur und war emotional leer.
Er war genauso wie Pinchas, denn sie beide waren auf diese Art und Weise umprogrammiert worden.
Während der Fernseher weiterlief, schloss Mordechai die Augen und lauschte stattdessen den Stimmen in seinem Inneren … dem Flüstern der Meister, die ihm den Weg wiesen und ihn vorantrieben. Es würde keinen Schmerz, keine Angst und keine Erwartungen mehr geben, denn das Einzige, was für ihn im Leben noch einen echten Wert besaß, war der Glaube an das eine Gesetz und die eine Religion.
Er öffnete seine Augen nun wieder und fuhr behutsam mit der Hand über seine Semtex-Weste, deren Konturen er unter dem Stoff seiner Anzugjacke spüren konnte.
»Eine Herrschaft, ein Gesetz und ein Glaube«, sagte er leise zu sich selbst. Dies war der Weg der ehrwürdigen Meister, der Vorväter der gefallenen Engel.
Er stand auf, legte einige Euroscheine neben sein leeres Whiskeyglas und verließ nun das Lokal. Draußen auf dem Gehsteig kündeten die verblassenden Lichtstrahlen die bevorstehende Dämmerung an. Von dort aus, wo er stand, konnte er das Gemelli-Krankenhaus sehen, das fußläufig erreichbar war.
Hineinzugelangen würde äußerst schwierig werden, das war ihm durchaus bewusst, aber er hatte vorgesorgt. Er musste schließlich nicht direkt am Bett des Papstes stehen, um sein Werk zu vollbringen. Bei der Menge Semtex, die er bei sich trug, würde es genügen, sich lediglich in seiner Nähe aufzuhalten. Denn wenn das Semtex erst einmal gezündet worden war und explodierte, würden die Träger des Krankenhauses geschwächt werden und irgendwann brechen, und das Gemelli-Krankenhaus würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
»Eine Herrschaft, ein Gesetz und ein Glaube«, sagte er erneut und erregte damit die Aufmerksamkeit eines Passanten.
Mit dem geisterhaften Flüstern der Stimmen in seinem Kopf machte er sich auf den Weg ins Gemelli-Krankenhaus.
Gemelli-Krankenhaus, Rom
Als Teil einer päpstlichen Entourage, die von einem Kardinal angeführt wurde, war Kimball Hayden schließlich in das Krankenhaus eskortiert worden. Das Sicherheitsaufgebot war extrem hoch, überall wimmelte es von der römischen Polizei und Carabinieri . Wegen seiner ungewöhnlichen Kleidung bekam Kimball viele misstrauische Blicke zugeworfen, doch er tat es als zu erwartende Reaktion ab.
Nachdem man ihnen Zutritt in den abgesperrten Bereich gewährt hatte, gestattete man Kimball und den vier Kardinälen die Anwesenheit im Aufwachraum, solange sie den Papst nicht störten. Die letzte Ölung, die von Kardinal Pastore durchgeführt werden würde, war ihnen bereits gestattet worden.
Als sie den Aufwachraum erreichten, entdeckten sie, dass dieser von unzähligen bewaffneten Carabinieri bewacht wurde. Kimball sog jedes Detail in sich auf und fragte sich unweigerlich, wie sich ein geübter Attentäter mit dem geringstmöglichen Widerstand diesem Areal nähern würde, denn das Gemelli war leider keine Festung, sondern nur ein normales Krankenhaus.
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