Kardinal Pastore bat die Carabinieri gerade, ihnen doch bitte einen ungestörten Moment mit Pius zu gewähren – eine Bitte, der diese sofort respektvoll nachkamen und die Tür hinter sich schlossen.
Bonasero Vessucci war an ein Beatmungsgerät angeschlossen worden. Seine Haut war wächsern und blass, beinahe grau, und sein schlohweißes Haar rahmte seinen Kopf mit strähnigen Locken ein. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, in langsamen Atemzügen. Kimball griff nach der Hand des alten Mannes und umklammerte sie fest. Er spürte die Knochen, und die Finger schienen ihm so zerbrechlich wie ein verwundeter Vogel zu sein. Mit der anderen Hand streichelte er zärtlich über die Wange des Pontifex. »Du schaffst das, Bonasero«, sagte er so leise, dass die Kardinäle glaubten, er hätte nur stumm seinen Mund bewegt.
Der Papst atmete, unterstützt von dem Faltenbalg in dem Beatmungsgerät flach und regelmäßig.
Bonasero, du kannst das schaffen!
Kurz darauf richtete sich Kimball auf und musterte den Raum ausgiebig. »Wir müssen ihn hier rausschaffen«, sagte er dann knapp. »Und zwar sofort.«
»Aber das ist unmöglich«, sagte Kardinal Pastore. »Er ist zu schwer verletzt, um bewegt und transportiert zu werden.«
»Hier ist er nicht sicher«, erklärte Kimball nachdrücklich. »Wenn es da draußen noch jemanden geben sollte, der diese Mission beenden will, könnte sich dieses Krankenhaus als reinstes Pulverfass erweisen.«
»Er wird doch schwer bewacht, Kimball.«
Kardinal Pastore gehörte genau wie die anderen drei Kardinäle im Raum zum Rat der Sieben, einer Gruppe, die über die Existenz der Vatikanritter Bescheid wusste und über ihre Missionen entschied. Deshalb konnte Kimball ihnen gegenüber auch ganz offen sprechen. »Ihr wisst, wer das getan hat, nicht wahr?« Er deutete auf den Papst.
Kardinal Pastore nickte. »Pinchas.«
»Richtig! Ein ehemaliger Ritter des Vatikan. Bis jetzt können wir noch nicht genau sagen, ob noch andere frühere Vatikanritter in diese Sache involviert sind. Aber sollte das der Fall sein, müssen wir unbedingt Vorkehrungen treffen, und das hier ist nun mal ein Krankenhaus und keine Festung. Es gibt hier Schwachstellen, die sich ein Vatikanritter ohne Probleme zunutze machen könnte, trotz des Wachpersonals.«
»Kimball« begann nun Kardinal Kumphry, »der ehrenwerte Kardinal Pastore hat es ja gerade schon erklärt. Papst Pius kann in seinem jetzigen Zustand nicht verlegt werden. Das Risiko, dass er dabei stirbt, ist viel zu hoch.«
»Aber wenn wir ihn nicht verlegen, sorglos sind und glauben, Pinchas hätte allein gehandelt, obwohl er es in Wirklichkeit vielleicht nicht getan hat, wird Bonasero bis zum Morgengrauen so oder so tot sein. All diese Wachleute vor der Tür werden keinen Unterschied machen. Wenn ein Vatikanritter zu Bonasero gelangen will, wird es ihm selbst unter diesen erschwerten Bedingungen gelingen.«
»Kimball, ich vertraue deinem Urteil natürlich«, sagte Kardinal Pastore. »Das tun wir alle, das weißt du. Aber die Umstände zwingen uns nun mal zu dieser Entscheidung. Wenn wir den Pontifex bewegen, wird er ganz sicher sterben. Sollte wirklich noch jemand hinter dem Papst her sein, dann müssen wir uns ihm hier, in diesem Krankenhaus, entgegenstellen.«
So frustriert Kimball über diese Lage auch war, so wusste er insgeheim doch, dass Kardinal Pastore recht hatte. Bonasero Vessuccis Leben hing momentan an einem sehr dünnen Faden, und jede Entscheidung, so klein sie auch erscheinen mochte, konnte diesen Faden zerreißen.
Kimball ließ die Schultern sinken. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. »Ich werde Jesaja und Leviticus benötigen«, sagte er nun entschieden. »Allein werde ich das nämlich nicht schaffen können.«
Kardinal Pastore nickte. »Natürlich. Beten wir, dass dies nur ein einmaliges Ereignis war«, sagte er. »Beten wir dafür, dass Pinchas nur auf eigene Faust agiert hat und er irgendwann seinen Weg zu uns zurückfinden wird.«
Kimball verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Grinsen. Darauf würde ich nicht wetten.
***
Das Gemelli-Krankenhaus war ein riesiges Gebäude mit mehreren Anbauten, von denen die meisten acht Stockwerke besaßen. Vor den Eingängen zum Haupthaus, der Notaufnahme, der Ambulanz und der Lieferzonen waren ebenfalls Carabinieri positioniert worden, die ihre volle Schutzausrüstung samt Protektoren, Helmen mit konvexen Visieren und Kevlarwesten trugen.
Mordechai beobachtete sie aufmerksam aus der Ferne.
Über mehrere Stunden hinweg, bis zum Anbruch der Dunkelheit hatte er das gesamte Areal ausgekundschaftet, um eine Schwachstelle zu finden. Auf der Rückseite des Gebäudes befand sich ein Personaleingang, der vollkommen unbewacht war. Die Tür selbst war verriegelt und alle vier Minuten fuhr ein Jeep des Sicherheitspersonals auf seiner Runde um das Gemelli-Krankenhaus daran vorbei, deshalb blieb ihm nur ein Zeitfenster von vier Minuten, um in das Gebäude einzudringen.
Verborgen im Schatten konnte er den Jeep hören und sah, wie er sich der Rückseite des Krankenhauses näherte. Als der an dem Seitenspiegel des Jeeps installierte Scheinwerfer die Dunkelheit erforschte, zog sich Mordechai langsam in seine Deckung zurück und wartete, bis sich der Jeep wieder entfernte.
Als dieser schließlich um die Kurve bog, eilte Mordechai auf den Personaleingang zu und legte die flache Hand an das Metall. Die Nacht war warm, das Metall ebenfalls. Er überprüfte nun den Türriegel, der aussah wie eine Art verlängerter Pistolenabzug, den man anheben und aufziehen musste, um die Tür zu öffnen, und stellte fest, dass dieser verschlossen war. Also trat er einen Schritt zurück, musterte den Mechanismus ausgiebig und bemerkte dabei das Schlüsselloch, für das man offenbar eine ganz besondere Art von Schlüssel brauchte.
Ihm blieben noch drei Minuten.
Er sah hoch und ließ seinen Blick an den glatten Wänden hinaufgleiten, die in die oberen Etagen führten – von hier unten war sie unerreichbar. Denn es gab keine Feuerleitern oder Ähnliches, nichts, woran er sich hätte hinaufziehen können.
Also wieder zurück zu dem Schloss.
Er zog die schallgedämpfte Pistole aus seinem Schulterholster, zielte auf das Schloss und feuerte dann zwei Schüsse darauf ab. Das Mündungsfeuer erhellte die Umgebung mit zwei kurzen Lichtblitzen.
Noch zwei Minuten.
Aber die Tür war weiterhin verschlossen.
Er zielte noch einmal sorgfältig, dieses Mal direkt auf das Schlüsselloch, und gab zwei weitere Schüsse ab, und wieder erhellte das Mündungsfeuer das ganze Areal.
Jetzt öffnete sich die Tür kaum wahrnehmbar. Mordechai packte den Griff, zog die Tür auf und betrat vorsichtig das Gemelli-Krankenhaus. Er sicherte seine Waffe, steckte sie wieder ein und durchquerte dann den leeren Verwaltungsbereich, um zur Patientenaufnahme zu gelangen.
Er konnte das Semtex in seiner Weste deutlich fühlen und spürte das Gewicht.
Plötzlich waren die Stimmen wieder da – kalt und gefühllos füllten sie seinen Verstand mit Befehlen.
Seine Pupillen zogen sich auf die Größe von kleinen Punkten zusammen, was bedeutete, dass sein Verstand sich nun ausschließlich auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentrierte: Bonasero Vessucci zu finden und ihn zu töten.
***
Die Kardinäle hatten Kimball Hayden mittlerweile verlassen, doch er war nicht allein. An seiner Seite standen seine beiden Lieutenants, Jesaja und Leviticus. Während Jesaja eher drahtig und dünn war, glich Leviticus mit seinen breiten Schultern und dem gewaltigen Brustkorb eher einer kleineren Ausgabe von Kimball.
Vor dem Aufwachraum A, der nun exklusiv dem Pontifex vorbehalten war, standen weiterhin schwerbewaffnete Carabinieri . Der Papst lag regungslos in seinem Bett und atmete nur mithilfe des Beatmungsgeräts. Neben ihm saß Kimball, der noch immer seine Hand hielt und ein leichtes Pulsieren spüren konnte, das unendlich langsam durch die zerbrechlich wirkenden Adern rann.
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