»Lass uns mal einen Zeitsprung machen, Nicki. Wir steigen wieder ein um zwölf Uhr, als du die Leiche fandest. Wieso du? Gehst du gewöhnlich in Emanuels Praxis?«
»Während des Tages eigentlich nie. Am Abend gehe ich hinein, staube ab und leere die Aschenbecher, weil Pandora dazu eigentlich keine Zeit hat, und im Sommer sitzen wir manchmal am Abend dort, bevor wir ausgehen, weil es der einzige Raum mit Klimaanlage im Haus ist. Aber tagsüber geht niemand auch nur in die Nähe. Wir bemühen uns sogar, nicht allzu oft hin und her zu laufen, wenn ein Patient im Wartezimmer sitzt, obwohl Emanuel sie daran gewöhnt hat, die Tür zum Flur hinter sich zu schließen, sodass sie uns im Grunde nie sehen könnten, außer, wenn sie gerade kommen oder gehen. Ich weiß, viele Psychiater mißbilligen es, wenn ein Analytiker seine Praxis im eigenen Haus hat, aber sie machen sich nicht klar, wie wenig die Patienten von dem bemerken, was um sie vor sich geht. Obwohl Emanuels Patienten wahrscheinlich annehmen, dass er verheiratet ist, hat mich erst einer in all den Jahren gesehen, und der hat mich wohl für eine andere Patientin gehalten. Von den Kindern hat, glaube ich, überhaupt noch niemand etwas bemerkt. Die Praxis ist für sie absolut verboten, und auch ich gehe nicht öfter hinein, als ich es tun würde, wenn Emanuel seine Praxis woanders hätte, wahrscheinlich sogar seltener.«
»Angenommen, du musst tagsüber etwas mit ihm besprechen?«
»Wenn es nichts Wichtiges ist, warte ich, bis er nach hinten in die Wohnung kommt, was er häufig zwischen zwei Patienten tut. Ist es eilig, telefoniere ich mit ihm. Er hat in der Praxis natürlich ein eigenes Telefon.«
»Aber gestern bist du um zwölf Uhr in seine Praxis gegangen.«
»Nein, nicht um zwölf. Ich bin gewöhnlich vor halb eins gar nicht zu Hause, obwohl es gestern ein bisschen früher war. Manchmal treffe ich mich auch mit jemandem zum Lunch oder fahre in die Stadt, und dann komme ich erst am frühen Nachmittag zurück. Aber gestern – Gott sei Dank, nehme ich an, Gott sei Dank – bin ich früher nach Hause gekommen. Als ich ins Haus kam, hat der Zwölf-Uhr-Patient …«
»Kanntest du ihn?«
»Nein, natürlich nicht. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Ich meine, ich habe erst nachher erfahren, dass er der Zwölf-Uhr-Patient war, und der steckte also seinen Kopf zum Flur herein und fragte mich, ob der Doktor heute keine Patienten empfange. Es war fünfundzwanzig Minuten vor eins, und der Therapeut hatte ihn nicht hereingeholt. Weißt du, Kate, das war schon sehr eigentümlich. Emanuel hat noch nie in seinem Leben einen Patienten versetzt. Ich wusste, dass er um elf Uhr eine Patientin hatte (Janet Harrison), und er geht niemals in den zehn Minuten bis zum nächsten Patienten aus dem Haus. Ich habe mich natürlich gefragt, was mit ihm passiert sein könnte. Saß er womöglich in seinem Sprechzimmer und fühlte sich, aus welchem Grund auch immer, nicht fähig, einen Patienten zu empfangen? Ich rief von der Küche aus in der Praxis an, und nach dreimaligem Läuten meldete sich der Auftragsdienst, also wusste ich nun, er war nicht da oder antwortete nicht, und da fing ich an, mir Sorgen zu machen. Inzwischen hatte ich den Patienten wieder ins Wartezimmer zurückkomplimentiert. Natürlich ging mir alles Mögliche durch den Kopf, von Emanuel mit Herzattacke im Behandlungsraum bis zu der Befürchtung, er hätte seine Elf-Uhr-Patientin noch nicht loswerden können – man hat die seltsamsten Fantasievorstellungen bei solchen Gelegenheiten –, Pandora war mit den Jungen in der Küche zum Lunch, und ich ging und klopfte an die Tür des Behandlungsraumes. Ich wusste, der Patient im Wartezimmer verfolgte, was ich jetzt unternahm, obwohl er mich nicht sehen konnte, aber ich musste irgendwas tun, und natürlich reagierte niemand auf mein Klopfen, also öffnete ich die Tür und steckte meinen Kopf hinein. Da lag sie, auf der Couch, die nicht weit von der Tür entfernt ist, ich konnte sie gar nicht übersehen. Mein erster Gedanke war: Sie ist eingeschlafen, aber dann sah ich das Messer aus ihrer Brust ragen. Und Emanuel nirgends zu sehen. Ich hatte die Geistesgegenwart, die Tür wieder zuzumachen und dem Patienten zu sagen, dass er lieber gehen solle. Er war neugierig und zögerte offensichtlich, einen Ort zu verlassen, an dem er ein Drama vermutete, aber ich habe ihn hinausbegleitet. Ich war absolut ruhig, wie man das oft nach einem Schock ist.«
»Und dann hast du die Polizei angerufen?«
»Nein. Ich habe überhaupt nicht an die Polizei gedacht, jedenfalls nicht in dem Augenblick.«
»Aber was hast du dann getan?«
»Ich bin hinübergerannt zu dem Arzt gegenüber. Er war sehr nett und kam sofort mit mir, obwohl er die Praxis voller Patienten hatte. Er heißt Barrister, Michael Barrister. Er sagte mir, dass sie tot sei.«
3
»Das Essen wird wohl gleich serviert«, sagte Emanuel, als er ins Schlafzimmer trat. »Hallo, Kate. Pandora hat auch für dich gedeckt. Wie diese Frau einfach so weitermacht, ist mir ein Rätsel, aber sie hat ja noch nie etwas für die Polizei übriggehabt.«
»Du hältst dich auch ganz gut«, sagte Kate.
»Heute war es ja im Grunde noch so wie sonst. Die Patienten wussten noch nichts, bis auf den letzten um sechs Uhr. Der hatte eine Abendzeitung bei sich.«
»Wird es schon in der Zeitung erwähnt?«, fragte Nicola.
»Erwähnt? Ich fürchte, im Augenblick sind wir der Aufmacher. Psychiatrie, Couch, Patientin, männlicher Doktor, Messer – man kann es ihnen kaum verübeln. Lass uns den Jungen gute Nacht sagen und dann zu Abend essen.«
Doch es dauerte bis nach dem Dinner – sie waren inzwischen im Wohnzimmer –, ehe wieder von dem Mord die Rede war. Kate hatte halbwegs erwartet, dass Emanuel gleich verschwinden würde, aber anscheinend wollte er darüber reden. Normalerweise trieb ihn ein inneres Bedürfnis, »etwas zu tun«, »die Zeit zu nutzen«, von gesellschaftlichen Anlässen fort, und wenn er blieb, stand er unter dem Druck einer sich steigernden inneren Spannung. Aber heute Abend, da von draußen ein wirkliches Problem drohte, schien Emanuel sich fast dankbar und ganz entspannt in die Betrachtung einer Sache zu vertiefen, die sich außerhalb seiner Kontrolle befand. Dass der Mord etwas war, was von außen zu ihm eingedrungen war, verschaffte ihm so etwas wie Erleichterung. Kate bemerkte das und wusste, die Polizei würde seine Ruhe als ein Symptom missdeuten, als ein Zeichen von Schuld, obwohl es – wenn sie es nur wüssten – gerade Ausdruck seiner Unschuld war. Hätte er das Mädchen ermordet, dann wäre das Ganze natürlich kein Problem, das quasi draußen, vor der Tür, blieb. Aber welchen Polizisten auf der Welt könnte man von alledem überzeugen? Stern? Kate zwang sich, ihre Gedanken wieder auf die Fakten zu konzentrieren.
»Emanuel«, fragte sie, »wo bist du zwischen zehn vor elf und halb eins gewesen? Erzähl mir jetzt nicht, du hättest einen Schlag auf den Kopf bekommen und seist umhergeirrt, ohne zu wissen, wer du bist.«
Emanuel sah sie an, dann Nicola und sagte schließlich zu Kate: »Wie viel hat sie dir erzählt?«
»Nur, wie der normale Tag verlief, und natürlich ein, zwei Worte darüber, wie sie die Leiche gefunden hat. Die magische Stunde selbst haben wir für den Augenblick mal übersprungen.«
»Magisch ist das richtige Wort«, sagte Emanuel. »Das Ganze ist derart schlau eingefädelt, dass ich der Polizei wirklich keinen Vorwurf machen kann, wenn sie mich verdächtigt. Fast verdächtige ich mich selbst. Wenn du zu dem durchaus berechtigten Verdacht der Polizei den geheimnisumwobenen und noch immer, wie ich fürchte, nicht wirklich als amerikanisch akzeptierten Beruf des Psychiaters dazurechnest, ist es kein Wunder, wenn sie annehmen, dass ich durchgedreht sei und das Mädchen auf meiner Couch erdolcht hätte. Ich glaube, sie haben da keinerlei Zweifel.«
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