Reginald Wündrich seufzte. Ihm blieben die Türen solch illustrer Studentenverbindungen unweigerlich verschlossen. Sein Honorar in der Gerichtsmedizin war seine einzige Einkommensquelle, denn niemand in seiner Familie verfügte über Adelstitel, Landbesitz oder militärische Orden und Ehrenzeichen. Aber er war ein findiger Kerl und hatte sich die Roller’sche Kurzschrift angeeignet, die es dem obduzierenden Arzt erlaubte, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen im Plauderton – sozusagen »ins Unreine« – von sich zu geben, während er mit Knochensäge, Skalpell und Rippenschere hantierte. Und so griff Reginald Wündrich eilfertig zu Papier und Bleistift, als Professor Straßmann den Raum betrat.
»Äußere Leichenschau an Charlotte Paulus, Georgenkirchplatz 8, Berlin C 2, geboren am 12. November 1871 in Paderborn«, vermeldete der Obduktionsgehilfe im Kasernenhofton, und Straßmann beugte sich über die Tote. »Gesunde, gut genährte junge Frau«, er hob Arme und Beine an und begutachtete Rücken und Hinterkopf, »keine Narben, keine auffälligen körperlichen Merkmale. Leichte bis mittelschwere Abrasionen und Lazerationen an allen vier Extremitäten.« Als sein Assistent die Tote wieder in Rückenlage gebracht hatte, hielt Straßmann einen Moment inne. »Schade um das schöne Mädchen«, murmelte er. Dann setzte er das Skalpell an.
Während der Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts die innere Leichenschau vornahm, entwickelte Auguste die letzte Platte und hatte kurz darauf die bewusste Fotografie vor sich liegen. Die restlichen Aufnahmen konnten warten: Juppi Weinfurth verfügte zu Augustes Verwunderung tatsächlich über genügend Feingefühl, die Bilder zunächst nicht in Umlauf zu bringen. Aber womöglich spekulierte er auch nur auf einen gewissen Gruseleffekt für den Fall, dass die Mordtheorie sich als zutreffend erweisen würde.
Auguste griff nach der Lupe und schob die Kontorlampe ein wenig dichter heran, um auch nicht das kleinste Detail zu übersehen. Doch bevor sie das Bild näher in Augenschein nehmen konnte, klopfte es vorne an der Ladentür. »Wir haben zu!«, rief sie durch die offen stehende Werkstatttür, »können Sie nicht lesen?« Selbstverständlich hatte Julius Fuchs den Laden für den Rest des Tages geschlossen, und das entsprechende Schild war eigentlich nicht zu übersehen.
»Doch. Lesen kann ich. Nur reinkommen kann ich nicht, wenn Sie mir nicht aufmachen.«
Ärgerlich sprang Auguste auf und lief hinüber in den Verkaufsraum. »So dringend kann’s ja nu nicht sein, dass es nicht bis morgen warten … Hoppla!«
Vor der Tür stand der junge Herr Kriminalassistent – deutlich früher, als sie erwartet hatte. »Verzeihen Sie, Fräulein Fuchs, aber man hat mich von Amts wegen für heute Abend zu einer etwas zeitaufwendigeren Angelegenheit abkommandiert, und deshalb dacht’ ich, ich guck schon vorher mal vorbei und frage nach, ob Sie vielleicht schon mit dem Entwickeln der Aufnahme fertig sind.«
»Ja, bin ich. In dieser Sekunde! Kommen Sie rein!« Aus unerfindlichen Gründen war es Auguste ganz recht, dass Jakob Wilhelmi sie – von allen ungesehen – hier unten im Laden aufsuchte. Es gab zwar keinen Grund, sein Kommen vor ihrem Vater und Tante Hattie oder vor Hulda Preissing und dem Liftboy Luis zu verheimlichen, aber so ein bisschen Geheimniskrämerei hatte durchaus etwas Prickelndes; insbesondere angesichts der Tatsache, dass es sich zweifelsohne nicht gehörte, sich als unverheiratete junge Frau mit einem offenbar ebenfalls unverheirateten jungen Mann in einer von jedwedem Tageslicht – und jedweden Blicken Dritter – abgeschirmten Werkstatt zu treffen. Dass Wilhelmi keinen Trauring trug, hatte sie bereits am Nachmittag festgestellt. Aber spielte das bei einem rein beruflichen Stelldichein wie diesem etwa irgendeine Rolle? Nicht mal im entferntesten Sinne! Und so schob Auguste ihrem Besucher wie selbstverständlich den Arbeitsschemel ihres Vaters zurecht und nahm neben ihm Platz, so dicht, dass sich ihre Arme beinahe berührten. Jakob Wilhelmis Haar roch angenehm nach Makassar-Öl und sein Jackett nach nasser Wolle. So nah war Auguste bisher nur ihrem Vetter Gustav aus Breslau gekommen. Der umarmte sie für ihren Geschmack ein wenig allzu oft und innig, und er roch im Unterschied zu Wilhelmi nach abgestandenem Zigarrenrauch.
»Eine, wie mir scheint, kerngesunde Person …«
Ups! Redet der etwa von mir? Auguste war so in Gedanken versunken, dass sie regelrecht zusammenschrak, als Wilhelmi zu sprechen begann. Der junge Herr Kriminalassistent betrachtete eingehend die in der Bewegung festgehaltene, halb nackte Gestalt in der Mitte des Bildes. »Dass Fräulein Paulus einem Herzanfall zum Opfer gefallen ist, scheint mir doch mehr als unwahrscheinlich.«
»Das hat Doktor Goldstein auch gesagt. Außerdem hatte sie diese schrecklichen Wahnvorstellungen. Als habe es einen oder mehrere unsichtbare Angreifer gegeben.«
»Ich hatte insgeheim gehofft, dass Sie die unsichtbaren Angreifer eingefangen haben.«
»Ähm … was?«
»Mit Ihrer Kamera!«
»Wie bitte?!« Allein der Gedanke brachte Auguste in Rage. »So ein Mumpitz! Diese sogenannten Geisterfotografen benutzen doch, wie jeder weiß, ganz einfach präparierte Platten. Da werden vorher Tante Käthe oder Onkel Kurt mit vorgehängter Tüllgardine aufbelichtet! Und was man dann so halb durchsichtig auf den fertigen Bildern sieht, sind keine Geister, sondern Schmu und reine Augenwischerei!«
Wilhelmi grinste, und Auguste hätte sich am liebsten geohrfeigt. »Sie nehmen mich auf den Arm.«
»Ist das so offensichtlich?«
»Jetzt nehmen Sie mich schon wieder auf den Arm!«
»Gut, ich hör sofort auf damit!« Schlagartig wurde Wilhelmi ernst und griff zu Julius Fuchs’ Lupe.
Auguste war sich nicht sicher, ob ihr der todernste Kriminalassistent besser gefiel, aber schließlich handelte es sich bei ihrem geheimen Treffen nicht um ein romantisches Tête-à-Tête. Sie rief sich innerlich energisch zur Ordnung und rückte noch ein wenig näher an Wilhelmi heran, um das Bild mit ihm gemeinsam durch die Lupe zu betrachten: Im Vordergrund kniete Ndeschio Temba, mit dem Rücken zur Kamera, vor dem geöffneten Schlangenkorb, aus dem sich die Python bereits etwa eine Ellenlänge weit erhoben hatte. Im Hintergrund saßen die beiden als Haremssklavinnen kostümierten Runtschen-Schwestern auf ihren Seidenkissen, und in der Bildmitte stand Charlotte Paulus. Ihre Gestalt war unscharf zu erkennen – wie verwischt –, da Charlotte sich während der Belichtungszeit heftig bewegt hatte. Ihr Blick – von Weinfurth eigentlich so inszeniert, als sei er ängstlich auf die Schlange gerichtet – war eindeutig nach hinten gewandt, auf etwas, das sich offenbar an oder knapp neben der rechten Bildkante befand.
»Wer auch immer da stand: Die oder der ist auf der Aufnahme leider nicht zu sehen.« Enttäuscht ließ Wilhelmi die Lupe sinken.
»Da stand niemand, das weiß ich genau.« Auguste schaute sich die entsprechende Stelle noch einmal Millimeter für Millimeter durch das Vergrößerungsglas an.
»Tja.« Wilhelmi stand auf. »Dann hatten wohl bei Fräulein Paulus schon zu diesem Zeitpunkt Wahnvorstellungen eingesetzt, und sie hat da was gesehen, das für die Augen aller anderen – und für Ihre Kamera – unsichtbar war.«
»Nein! Augenblick noch!« Auguste zog ihren Mitverschwörer unsanft zurück auf seinen Platz. »Gucken Sie mal! Da!« Sie drückte Wilhelmi die Lupe in die Hand, »Da, zwischen den Drapieren!«
»Wo?«
»Den, den, den …«, Auguste fuchtelte enerviert in der Luft herum und suchte nach einem Ersatz für den offenbar für Männerohren unbekannten Begriff, »… den Stoffbahnen, die von oben runterhängen!«
»Ich weiß, was Drapieren sind, nur seh ich da niemanden.«
»Das hab ich ja auch nicht behauptet! Ich meine das da!« Sie deutete auf einen Gegenstand, der zwischen den Samtvorhängen hervorlugte. »Ein Stab oder Stock.«
Читать дальше