Auch wenn es innerhalb bestimmter Diskussionsgänge nicht immer ersichtlich sein mag, sind alle textkritischen Entscheidungen in diesem Kommentar in Demut und nicht ohne Bangen getroffen worden. Viele von ihnen wurden mehr als einmal verändert. Sehr beruhigend ist es, wenn sich textkritische Entscheidungen bei Trebolle oder einer der großen Exegeten der Vergangenheit wie Burney, Klostermann oder Stade finden, denen ich zustimmen oder auf die ich mich berufen kann. Natürlich ist es auch möglich, zu einer anderen Entscheidung zu kommen. Vor allem hoffe ich, dass der textkritische Fokus dieses Kommentars zukünftige Kommentatoren dazu anregt, textkritische Überlegungen stärker in die Auslegung einzubeziehen.
Weil dies aber ein Kommentar ist und keine kritische Textausgabe, ist es nur begrenzt möglich, sich textkritischen Fragen zu widmen. 23Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Textunterschieden, die für den Inhalt oder den Sinn von Bedeutung sind, was allerdings schon bei kleinen Unterschieden der Fall sein kann.Ausgelassene Varianten Unberücksichtigt bleiben in den Anmerkungen zu Text und Übersetzung generell die folgenden Varianten, falls nicht weitere Gründe für eine Diskussion vorliegen: stilistische Unterschiede wie etwa die Nennung von Eigennamen durch G zur Verdeutlichung, wo MT Pronomina verwendet; die Nennung oder Auslassung von Konjunktionen, wenn dadurch der Sinn nicht verändert wird; geringfügigere Erweiterungen wie etwa Titel (z. B. „König von Israel“, die Wiederholung des Patronyms, die Nennung oder Auslassung des bestimmten Objekts sowie die Wörter „alle“ bzw. „alles“); die Auslassung bzw. Nennung des indirekten Objekts („ihm“, „ihr“, „ihnen“ usw.) nach Verben wie „sagen“, „sprechen“ usw.; eine veränderte Wortstellung, insofern diese nicht von Bedeutung zu sein scheint; unterschiedliche Präpositionen, bei denen es kaum Bedeutungsunterschiede gibt (z. B. εν/επι vs. על/ב). MT als LeithandschriftDie Leithandschrift, die bei gleichwertigen Varianten im MT und der OG den Ausschlag gibt und an der ich mich in den meisten Fällen bei der Schreibweise und anderen „Akzidenzien“ orientiere, ist der MT in Gestalt des Codex Leningradensis. 24
Bei meinen Überlegungen zum Entstehungsprozess von 1 Könige 16 – 2 Kings 16 musste ich öfter an Festus’ Worte an Paulus in Apg 26,24 denken: „Du bist verrückt, Paulus! Das viele Studieren treibt dich in den Wahnsinn!“ Dabei bestand der Anknüpfungspunkt weniger im großen Studienpensum, sondern vielmehr darin, dass ich durch die komplizierten und manches Mal widersprüchlichen Hinweise zur Entstehung der Königebücher gelegentlich das Gefühl hatte, dem Wahnsinn nahe zu sein. Walter Dietrich, der Herausgeber dieser Kommentarreihe und ein sehr gelehrter Mann, schreibt zu 1 Kön 16,7, der Text habe „viel Kopfzerbrechen gemacht“. 25Gleiches ließe sich über die Königebücher insgesamt sagen, oder zumindest über 1 Könige 16 – 2 Könige 16. 26Was meine intensive Beschäftigung mit diesem Gegenstand erträglich gemacht hat – neben der Tatsache, dass ich mich in guter Gesellschaft befinde –, ist die Hoffnung, dass das von mir vorgestellte Modell einiges zur Lösung der verzwicktesten kompositionellen Probleme in diesem Abschnitt der Königebücher beitragen kann. Kompositionsmodell Diesem Modell zufolge gibt es vor allem zwei Kompositionsebenen in den Königebüchern: eine primäre, deuteronomistische und eine sekundäre, prophetisch geprägte. Beide sind das Werk jeweils unterschiedlicher Verfasser bzw. Redaktoren, die sich unterschiedlicher Quellen bedienten. Beide wurden später durch Glossen und Hinzufügungen erweitert. Diese unterschiedlichen Ebenen der Komposition werden in der Übersetzung durch die Verwendung unterschiedlicher Schrifttypen markiert:
Quellen des DtrH, unter anderem das Rahmenformular
DtrH
Glossen und Hinzufügungen (ohne PE) zu DtrH
Glossen und Hinzufügungen zu sekundärem Material
Prophetische und Kriegserzählungen, die von PE verwendet werden (unterschiedliche Quellen innerhalb des gleichen Abschnitts sind durch Normaldruck, Kursivierung oder Fettdruckgekennzeichnet).
Prophetische Erzählung/prophetischer Erzähler (PE)
Glossen und Hinzufügungen zum PE
Glossen und Hinzufügungen zu sekundärem Material
3.1 Quellen, die älter sind als DtrH
3.1.1 Rahmenformular
Beim Abschluss des Rahmenformulars trifft man wiederholt auf die Wendung, dass sich mehr Informationen über einen bestimmten König im Buch oder der Rolle der Chroniken der Könige Israels oder Judas finden ließen. Es gibt gute Gründe, diese „Quellennotiz“ als Hinweis auf ein Dokument anzusehen, das es tatsächlich gegeben hat. Zu diesen Gründen zählt, dass es Annalen und ähnliche offizielle Aufzeichnungen aus anderen Ländern des Alten Orients gibt; dass sich historisch korrekte Informationen (wie etwa Namen, ein ungefährer Zeitrahmen und Ähnliches) in den biblischen Berichten der Königebücher finden; und dass es Unterschiede zwischen den über die Könige Israels und die Könige Judas gegebenen Informationen gibt, z. B. über das Alter des Königs bei der Thronbesteigung und den Namen der Königinmutter im Formular für die judäischen Könige, der bei den israelitischen Königen fehlt. 27Wie genau diese „Chroniken“ ausgesehen haben, lässt sich schwer sagen. Oft wird angenommen, dass es sich dabei um Annalen handelt, doch das beruht meist auf assyrischen und babylonischen Parallelen und ist keineswegs gesichert. Zutreffender lassen sich „Chroniken“ vermutlich als Königslisten bezeichnen. 28Die Unterschiede in den von ihnen enthaltenen Informationen deuten darauf hin, dass es für Israel und Juda getrennte Listen gegeben hat. Da Israel und Juda zwei getrennte Staaten waren, gab es keinen Grund dafür, dass die Datierung der Könige des einen Landes anhand derer des anderen zu geschehen hatte. 29Eine kombinierte Königsliste Die synchronistische oder kombinierte Liste, die sich in den Königebüchern spiegelt, war deshalb eher eine Kompilation als eine Primärquelle. 30Noths These baut für die Königebücher darauf auf, dass der Verfasser der DtrH selbst gewesen ist. Allerdings spricht auch einiges dafür, dass die Kompilation bereits vor DtrH geschaffen wurde und ihm als Quelle diente. 31Ein Grund dafür ist der Unterschied bei den Angaben für die Thronbesteigung und die Nachfolge, die mutmaßlich der kombinierten Königsliste entstammen, und der theologischen Beurteilung der Könige, die auf den DtrH zurückgehen. 32Ein weiterer Grund hat mit Israel und Juda als getrennten Königreichen zu tun. In der jüngsten Forschung wird ihre jeweilige historische, gesellschaftliche und politische Besonderheit betont und darauf hingewiesen, wie künstlich die Behandlung als ein – wenn auch getrenntes – Ganzes in Samuel–Könige ist. 33Deshalb lässt sich fragen, warum DtrH, der eindeutig aus Südreichsperspektive schreibt und Jhwhs Erwählung Davids und Judas befürwortet, sich überhaupt Israel widmet, vor allem weil seine Behandlung Israels durchgängig negativ ausfällt. Die beiden Reiche müssen bereits verbunden gewesen sein, und die kombinierte Königsliste weist sehr deutlich auf eine solche Verbindung hin.
Wenn man den Informationsgehalt der kombinierten Königsliste genauer nachzeichnet, dann lässt sich feststellen, dass sie vermutlich die meisten Elemente des Abschlussformulars (siehe die oben genannte Liste) nicht enthalten hat. 34Folglich umfasste sie auch nicht die Quellennotiz, die auf sie selbst verweist. Sie könnte zusätzliche Einzelheiten enthalten haben, die aber im Formular nicht immer als gesondertes Element erscheinen. Die Hinweise über Tod und Bestattung hat wohl DtrH eingefügt, weil sie dazu genutzt werden, Zustimmung oder Ablehnung gegenüber den Königen zum Ausdruck zu bringen. Die Angabe über die Nachfolge wiederholt Informationen des Einleitungsformulars. Von daher hat die kombinierte Königsliste wohl nur das Material des Einleitungsformulars enthalten, nicht aber eine theologische Beurteilung oder gelegentliche ergänzende Angaben. Für die israelitischen Könige heißt das, dass in dieser Quelle über sie normalerweise nur Angaben über die synchronistische Datierung des Regierungsantritts und die Regierungsdauer enthalten sind. 35
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