„Jetzt,“ sagte er, „pass’ auf! So lang die Wanze auf deiner Seite ist, darfst du sie treiben mit der Nadel und ich lass’ sie in Ruhe. Brennt sie dir aber durch und kommt zu mir herüber, dann siehst du zu, so lang, bis sie mir wieder durchgeht. Hast du verstanden?“
„Schon gut, nur vorwärts,“ trieb der ungeduldige Joe, — „kitzle sie ’mal ein bisschen!“
Die Wanze entwischte Tom schleunigst und passierte die Linie, nun war die Reihe des ,Kitzelns‘ an Joe, gleich danach hatte sie wiederum den Äquator gekreuzt. Dieser Wechsel wiederholte sich des öfteren. Während nun der eine Junge die unglückselige Baumwanze mit der Nadel anspornte, in nimmer erlahmendem Eifer, schaute der andere in atemloser Spannung zu, die beiden Köpfe waren tief über die Tafel gebeugt, die beiden Seelen schienen der ganzen übrigen Welt wie abgestorben. Endlich wollte sich das launenhafte Glück für Joe entscheiden, an seine Fersen heften. Die Wanze versuchte auf allen möglichen Wegen zu entwischen und wurde bei der Jagd so lebhaft und erregt, wie die Jungen selber. Aber wieder und wieder, gerade als sie den Sieg schon, sozusagen, in Händen hielt und Toms Finger juckten und zappelten vor Begier, in die Aktion eingreifen zu können, gerade im entscheidenden Moment lenkte Joes Nadel geschickt den Flüchtling nach seiner Seite zurück und wahrte sich den Besitz dieses köstlichen Guts. Endlich konnte es Tom nicht länger aushalten, die Versuchung war zu gross. So streckte er denn die Hand aus und begann mit seiner Nadel nachzuhelfen. Da aber wurde Joe zornig und rief drohend:
„Tom, lass das bleiben!“
„Ich will dir ja nur ein klein bisschen helfen, Joe.“
„Ach was, helfen! Brauch’ dich nicht, lass bleiben, sag’ ich.“
„Kuckuck, noch einmal. Ich werd’ doch auch ein bisschen helfen dürfen!“
„Lass’ bleiben, sag’ ich dir!“
„Ich will aber nicht.“
„Du musst — die Wanze ist auf meiner Seite.“
“Hör’ mal zu, Joe Harper. Wem gehört die Wanze denn eigentlich, dir oder mir?“
„Das ist mir ganz einerlei. Eben ist sie auf meiner Seite der Linie und du sollst sie nicht anrühren, oder —“
„Na, wettst du, dass ich’s tu’? Die Wanze ist mein und ich kann mit ihr machen, was ich will — hol’ mich der und jener! Her damit, sag’ ich!“
Ein saftiger Hieb sauste hernieder auf Toms Schultern, ein Zwillingsbruder desselben traf Joes Rücken; zwei Minuten lang waren die Jungen in eine Staubwolke gehüllt, die aus ihren Jacken aufwirbelte, zum ungeheuren Gaudium der ganzen Schule. Die beiden Sünder waren zu versunken gewesen in ihre Beschäftigung, um das verhängnisvolle Schweigen zu bemerken, das eingetreten war, als der Lehrer auf den Fussspitzen nach ihnen hinschlich und dann hinter ihnen stehen blieb. Er hatte eine hübsche Weile der seltenen Beschäftigung zugeschaut, ehe er sich erlaubte, seinen Teil zur Mehrung des Vergnügens beizutragen.
Als die Schule dann um Mittag aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu und wisperte ihr ins Ohr:
„Setz’ deinen Hut auf und tu’ als ob du heim wolltest. Wenn du an der Ecke bist, lass die andern laufen und komm durch’s Heckengässchen zurück. Ich mach’s gerade auch so.“
So ging also jedes der beiden mit einem andern Haufen Kinder ab, am Ende des Heckenpfads trafen sie einander und als sie dann zusammen die Schule erreichten, hatten sie diese ganz für sich allein. Sie setzten sich nebeneinander, nahmen eine Tafel vor und Tom führte Beckys mit dem Griffel bewaffnete Hand sorgsam mit der seinen und schuf ein neues erstaunliches Wunder von Haus. Als das Interesse an der Kunst etwas zu erlahmen begann, machten sich die zwei ans Plaudern. Tom schwamm in einem Meer von Wonne. Jetzt fragte er:
„Magst du Ratten?“
„Puh nein, ich kann sie nicht ausstehen.“
„Ich auch nicht — lebendige, wenigstens. Aber tote, meine ich, die man an eine Schnur bindet und um seinen Kopf schwingt.“
„Nee, ich mach’ mir überhaupt nicht viel aus Ratten, so oder so. Was ich gern mag, ist Süssholz!“
„Das glaub’ ich. Wollt’, ich hätte ein Stück!“
„Wirklich? Ich hab’ eins. Da, du kannst ein bisschen dran kauen, musst mir’s aber dann wiedergeben, gelt?“
Das war nun eine wundervolle Beschäftigung. So kauten sie denn abwechselnd und baumelten dazu mit den Beinen gegen die Bank im Übermass wonnigsten Behagens.
„Warst du schon einmal im Zirkus?“, fragte Tom.
„Ja, und ich darf wieder hin, hat Papa versprochen, wenn ich sehr brav bin.“
„Ich war schon drei- oder viermal — nee noch viel, viel öfter dort. Die Kirche ist gar nichts dagegen! Im Zirkus ist immer was los. Wenn ich ’mal gross bin, werd’ ich Hanswurst!“
„Wahrhaftig? Das wird reizend! Die sind immer so wunderhübsch gefleckt, Hosen und Jacke und alles.“
„Das ist wahr. Und sie verdienen Haufen von Geld — beinahe ’nen Dollar im Tag, meint Ben Rogers. Sag’ mal Becky, warst du schon mal verlobt?“
„Was ist denn das?“
„Na verlobt — wenn man sich heiraten will.“
„Nein, nie.“
„Möchtest du’s gern?“
„Vielleicht, ich weiss nicht. Wie ist’s denn ungefähr?“
„Wie’s ist? Ja, wie gar nichts eigentlich. Du brauchst nur ’nem Jungen zu sagen, du wollst keinen andern haben als ihn, nie, nie und nimmer, dann gibst du ihm’nen Kuss und die Geschichte ist fertig. Das kann doch ein kleines Kind — nicht?“
„’nen Kuss? Warum denn den?“
„Ja, das muss man, weil, — kurz sie tun’s eben alle, das gehört dazu.“
„Alle tun’s?“
„Ja, alle die ineinander verliebt sind. Weisst du noch, was ich dir auf die Tafel geschrieben habe?“
„J — ja.“
„Was denn?“
„Ich sag’s nicht.“
„Soll ich’s sagen?“
„J — ja — aber ein andermal.“
„Nein, jetzt.“
„Nein, nicht jetzt — morgen.“
„Ach nein, jetzt, bitte, bitte, Becky. Ich will’s auch nur ganz, ganz leise sagen. Soll ich?“
Da Becky zögerte, nahm Tom ihr Schweigen für Zustimmung, schlang den Arm um sie, legte den Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte ihr leise, leise die uralte Zauberformel zu. Dann fuhr er ermunternd fort:
„Jetzt bist du dran. Nun musst du’s sagen — ganz dasselbe.“
Eine Weile widerstand sie, und bat dann:
„Du musst dein Gesicht dorthin drehen, dass du mich nicht sehen kannst, dann sag ich’s. Du darfst’s aber keinem, keinem Menschen wieder sagen, gelt Tom, das versprichst du, gelt?“
„Nie im Leben, Becky, gewiss und wahrhaftig. Na — denn los!“
Er wandte den Kopf ab, sie beugte sich schüchtern zu ihm, bis ihr Atem seine Wange streifte und seine Locken bewegte und flüsterte: „Ich — liebe — dich.“
Dann sprang sie auf, rannte um Bänke und Tische, Tom immer hinterdrein, nahm zuletzt Zuflucht in einer Ede des Zimmers und drückte ihr Gesichtchen fest in die weisse kleine Schürze. Tom schlang die Arme um ihren Hals und bat:
„Jetzt, Becky, ist’s ja beinahe vorbei — nur noch der Kuss. Du brauchst dich doch davor nicht zu fürchten, das ist ja gar nichts. Bitte, Becky.“
Und er versuchte Schürze und Hände vom Gesicht zu lösen.
Allmählich gab sie nach und liess die Hände sinken. Das Gesichtchen, ganz rot und erhitzt von der Anstrengung, kam zum Vorschein und unterwarf sich der Prozedur. Tom küsste die roten Lippen und sagte:
„So, jetzt ist’s geschehen, Becky. Und von jetzt an, weisst du, darfst du nur mich lieben und heiraten und gar, gar keinen andern, nie, niemals, in alle Ewigkeit nicht. Willst du?“
„Nein, ich will nie ’nen andern lieben, Tom, und nie ’nen andern heiraten als dich, aber du darfst’s auch nicht tun, Tom, darfst auch nie ’ne andere heiraten wollen.“
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