»Okay. Warte mal kurz. Bevor wir reingehen, rufe ich meinen Vater an.«
Ava holt ihr Telefon aus der Tasche, es ist praktisch museumsreif. Kaum zu glauben, dass es noch funktioniert. Kurz darauf spricht sie mit ihrem Dad und erklärt, dass sie noch in der Schule ist und wir keinen Strom haben. Sie hört eine Weile zu und verabschiedet sich dann. Nachdem sie aufgelegt hat, sieht sie mich mit großen Augen an.
»Dad meint, ganz London ist abgeriegelt.«
»Ist er bei der Polizei?«
Sie schüttelt den Kopf, zögert. »Er ist Taxifahrer.« So wie sie es sagt, klingt es fast trotzig. Ich wusste es nicht und bestimmt weiß es auch sonst niemand auf der Schule, sonst hätte das längst die Runde gemacht. Selbst wenn sie unterm Radar fliegt, würde das nicht unbeachtet bleiben. Hat Ava mir gerade etwas anvertraut, was sie sonst für sich behält? »Er weiß immer, was wo vor sich geht.«
Ich krame mein eigenes Handy hervor, es war auf lautlos gestellt. Verpasste Anrufe von Dads Assistentin und einer von Dad. Daneben hat er mir noch eine Nachricht geschrieben: Bist du noch in der Schule? Bleib da .
Ich drücke auf den grünen Hörer und lausche dem Freizeichen.
In der Bibliothek erwarten uns besorgte Gesichter im Kerzenschein. Sam zieht es gleich zum Licht, mitten in den Kreis der Leute. Immer wieder huscht ihr Blick ängstlich in die dunklen Ecken, als könnte dort etwas lauern.
Wir setzen uns. Ein paar Dutzend Lehrer und halb so viele Schüler sind anwesend. Manche unterhalten sich, andere lesen oder texten, während sich in ihren Augen der gespenstische Schein ihrer Telefone widerspiegelt.
Die stellvertretende Direktorin kommt zu uns. »Die Polizei will sich melden, wenn wir die Schule verlassen können.« Sie fragt nicht direkt, aber in der kleinen Pause am Ende des Satzes schwingt eine Frage an Sam mit. Andere schauen zu uns hinüber und horchen.
Sam zuckt die Achseln. »Ich weiß nur, dass die Straßen abgesperrt sind.« Den Rest, den sie mir nach dem Telefonat mit ihrem Vater erzählt hat, verschweigt sie. Dass nämlich die Polizei die Gegend absucht, weil sie glaubt, dass das Stromnetz sabotiert wurde.
Plötzlich erwachen die Deckenlampen flackernd zum Leben und alle jubeln.
Kurz darauf klingelt Sams Telefon.
»Ja … okay … in zwanzig Minuten? Können wir Ava auch nach Hause fahren? … gut, ich schicke gleich die Adresse.«
Sie legt auf. »Der Fahrer ist auf dem Weg.«
»Wir haben ja noch kein grünes Licht bekommen«, sagt die stellvertretende Direktorin, aber da klingelt auch schon ihr Telefon und sie bestätigt es. Allmählich ziehen sich alle ihre Mäntel an, verabschieden sich, rätseln, was wohl los war und warum sie so lange warten mussten. Die Lehrer stellen sicher, dass die Schüler auch abgeholt werden.
»Wir nehmen Ava mit«, sagt Sam, als sich jemand bei uns erkundigt.
Nun ziehen auch wir uns an und laufen zum Tor.
»Wo wohnst du denn?«, fragt Sam.
»Ich komme schon allein nach Hause, keine Sorge.«
»Sei doch nicht blöd. Es ist spät, wer weiß, was da draußen los ist. Ich muss ihnen nur deine Adresse geben, damit sie die Route freimachen können oder irgend so ein Quatsch.«
»Danke, aber nein.«
Besorgt sieht Sam mich an, dann dreht sie sich um. Hält sie nach der stellvertretenden Direktorin Ausschau? Ich verabschiede mich schnell und verlasse das Gelände über einen Seitenausgang, bevor Sam noch jemandem Bescheid geben kann oder weiter auf mich einredet.
Am Tor gebe ich den Code ein und laufe rasch um die Ecke Richtung Bushaltestelle.
Auf der Straße ist nicht viel los, nur wenige Menschen sind unterwegs. Eigentlich war es ziemlich bescheuert von mir, mich nicht nach Hause fahren zu lassen. Wenn sich der Bus jetzt verspätet oder gar nicht kommt?
Warum habe ich das Angebot ausgeschlagen? Ich seufze. Im Grunde weiß ich es, will es aber nicht zugeben.
Ich wollte nicht, dass sie sieht, wo wir wohnen.
Dabei habe ich geglaubt, mir wäre es gelungen, mich endlich davon frei zu machen, was andere denken. Jetzt das. Und das Schlimmste daran ist, dass es nicht irgendjemand ist, sondern sie.
Das Tor öffnet sich und schwingt direkt hinter dem Wagen wieder zu, dann erst öffnet sich das nächste. Ohne Strom hätte das gar nicht funktioniert. Gefangene unserer eigenen Sicherheitsvorkehrungen! Ob es so was wie eine Notentriegelung gibt?
Warum wurde das Stromnetz überhaupt sabotiert? Rund um die Schule gibt es nichts als große Häuser, teure Läden und Restaurants. Die gesamte Nachbarschaft ist durch Tore, Alarmanlagen und Kameras geschützt.
Fast alles läuft elektronisch. Manche haben vielleicht eine Reservebatterie, aber es muss ja wohl für alle anderen eine Notentriegelung geben. Sonst würde man beim Stromausfall ja in der Falle sitzen. Was, wenn ein Feuer ausbricht?
Wieder beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Die Polizei weiß all das. Haben sie deshalb alles abgesperrt und uns befohlen, uns nicht vom Fleck zu rühren, damit sie die Gegend in Ruhe absuchen können? Es ist nur wenig los auf den Straßen, und je weiter die Schule zurückbleibt und je näher mein Zuhause kommt, desto mehr löst sich meine Anspannung.
Dann knallt es hinter uns plötzlich mehrmals. Ein Auto mit Fehlzündung? Aber es hört überhaupt nicht mehr auf. Wird da geschossen?
Ich drücke auf den Knopf, um mit dem Fahrer hinter der Trennscheibe zu sprechen.
»Was ist denn da los?«
»Polizeiaktion. Betrifft uns aber nicht.«
Ob es Ava gut geht? Die Geräusche kommen aus der Ecke, aus der wir gekommen sind, aber ich weiß ja gar nicht, wo sie wohnt und wie sie da hinkommen wollte, deshalb kann ich mich nicht mal vergewissern. Ich habe solche Angst um sie. Warum wollte sie bloß nicht bei uns mitfahren?
Diese beiden ersten Nachhilfestunden verliefen nicht wie erwartet. Ava hat mich zwar dazu gebracht, was für die Schule zu tun, aber da waren auch noch die Sachen, über die wir geredet haben. Und dass ich sie zeichnen durfte.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so offen war wie heute Ava gegenüber. Dabei weiß ich noch nicht mal, warum. Vielleicht weil ich so wenig geschlafen hatte.
Dass ich ihr erzählt habe, dass ich nicht an die Liebe auf den ersten Blick glaube. Meine Freundinnen würden das nicht verstehen. Darüber reden sie nämlich ständig. Mit Charlize bin ich befreundet, seit wir fünf sind. Früher haben wir uns alles anvertraut. Sie stand mir näher als jeder andere. Doch das hat sich geändert, seit Charlize Jungs für sich entdeckt hat. Jede Woche verliebt sie sich neu und will dann über nichts anderes reden. Deshalb habe ich ihr natürlich nicht gesagt, wie ich darüber denke.
Und dann habe ich auch noch gesagt, dass ich nicht glaube, dass es den einen Menschen gibt, der uns vom Schicksal vorherbestimmt wurde. Ich habe jedenfalls noch nie so jemanden kennengelernt.
Ava ist anders als alle meine anderen Freunde. Ich habe wirklich versucht, sie zu malen, so wie sie ist, aber ich habe ihre Augen nicht hinbekommen. Wenn sie mir bloß noch mal Modell sitzen würde. Das wünsche ich mir.
Hoffentlich ist alles okay, Ava .
Ich kenne sie doch kaum. Natürlich würde ich mich um jedes Mädchen aus der Schule sorgen, aber warum geht sie mir so nah? Das verstehe ich nicht.
Es wird kälter und ich schlinge beim Gehen die Jacke enger um mich.
Die Straße, in der der Bus normalerweise abfährt, ist gesperrt. Ich laufe einen großen Schlenker, aber überall stehen orange-weiße Straßensperren. Die Polizei vor Ort wirkt wachsam, nervös. Wo soll ich denn jetzt noch langgehen?
Dad wüsste natürlich, wie ich am besten nach Hause käme, das wissen Taxifahrer immer, aber wenn ich ihn jetzt anrufe, macht er sich bloß Sorgen, und bei den Blockaden überall kann er mich ja doch nicht holen. Ich werde mal in dem kleinen Shop fragen, in dem ich manchmal was kaufe. Doch als ich dort ankomme, ist er geschlossen. Der ist sonst nie geschlossen. Als ich mich umschaue, wird mir ernsthaft bewusst, wie leer gefegt es plötzlich ist. Und auch so still, als würden Straßen, Gebäude und Gehwege den Atem anhalten. Wo sind denn die Leute hin?
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