„Nu sehen Sie sich das Tier mal mit Verstand an, Fräulein Elschen, und dann sagen Sie im Ernst, ob wir in Deutschland am Verhungern sind!“
„Nein wahrhaftig nicht“ prustete Elschen lachend los. Frau Lehmann versprach ihr, dass sie auch etwas von abhaben sollte, und dann traten sie vergnügt wieder den Heimweg an, während sich die übrigen „Pensionsmitglieder“ noch eine Stunde im Glanze der Speckschwarte und der kommenden Genüsse sonnten.
Doch, wie gesagt, Martin Knesebecks Urlaub nahte seinem Ende. Die dunkle Stunde kam, in der Martin, vollbepackt, wieder am Bahnhof stand und Abschied nahm. Sein Hauptmann Franz Scholz befand sich schon wieder im Felde, diesmal auf dem Balkan, wo er dem Hauptquartier Mackensens zugeteilt war. Martin ging nach Russland. Elschens Augen standen voll Tränen. Vater Ohnesorg, ehrsamer Buchbindermeister, gab dem Soldaten gleichfalls das Geleite und ebenso seine Gattin. Der Alte sagte, er wolle in Sachen Elschens Verheiratung nicht aus wohlwollender Neutralität heraustreten, während Frau Ohnesorg eine ähnliche Beteuerung schon mit einer Miene begleitete, die etwa Herr Wilson in Amerika aufsetzte, wenn er in der linken Hand mit dem Palmenzweig fächelte und mit der rechten Hand eine Masseneinladung der Neutralen zum Kulturkrieg hinter dem Rücken barg.
Kurz und gut, Elschen schwor Martin nochmals ganz heimlich, dass sie sein bleibe, tot oder lebendig. Vater Ohnesorg wischte sich eine Träne aus den Augen, Mutter Ohnesorg wickelte noch schnell eine gepökelte Gänsekeule aus dem Regenschirm, ohne den sie auch im Winter und bei Sonnenschein nicht ausging und steckte sie Martin Knesebeck zu.
„Ohne Fleischkarte, brauchst dir keine Gewissensbisse zu machen. 14 Mark kostet hier das Pfund. Ich habe sie aus Mecklenburg geschickt bekommen ... billig ... aber ganz was Feines!“
Da setzte sich der Zug in Bewegung. Dampf und Rauch verhinderten die Fernsicht. Elschen wedelte noch lange mit dem Taschentuch, aber Martin Knesebeck konnte das nicht mehr sehen, und Mutter Ohnesorg sagte:
„Nu ist es genug, Elseken. Ein Stück Weltgeschichte ist abgetan, nu dreh die Seite um und fang ein neues Leben an.“
Und auf Elschens fragenden Augenaufschlag erklärte Mudding, die Sache mit Martin sei ihr einfach zu unsicher, und sie dringe unbedingt darauf, dass Elschen den viel sicheren Herrn Hinrichsen nehme.
Elschen aber erwiderte, das tue sie nie und nimmer, und wandte sich mit einem leidenschaftlichen Apell an den Vater. Der gute alte Buchbindermeister äugelte misstrauisch zu seiner Gattin herüber. Die sagte gewöhnlich in solchen Fällen nur: „Untersteh dich!“ Dabei zog sie das „U“ in die Länge wie eine Vierverbandsnote über Menschen und Völkerrechte — und Martin Knesebeck hatte nicht Unrecht, wenn er diese Bemerkung Frau Ohnesorg die „U-bootandrohung der Ollen“ nannte.
Also Vater Ohnesorg hatte jedenfalls keine Traute, es auf diesen rücksichtslosen U-Boot-Krieg ankommen zu lassen, denn er machte einige Bemerkungen mit wenn und aber und siehmal, um sich schliesslich eine Zigarre anzuzünden und das Plädoyer seiner Gattin zu überlassen.
Aber Elschen liess sich nicht überzeugen. Die Stimmung im Hause Ohnesorg wurde im Laufe des nächsten Tages immer weniger rosig. Frau Ohnesorg wollte Elschens Einwendungen nicht gelten lassen.
„Mit der Liebe ist es wie mit den „Ententerichten“ sagte sie. „Da wird alles versprochen und nichts gehalten!“ Aber Elschen erwiderte, die Politik habe mit der Liebe nichts zu tun, und sie jedenfalls lasse sich in ihrer Bündnispflicht nicht irre machen, denn sie sei keine Ententeriche, sondern eine Deutsche. So gingen die Reden im Hause Ohnesorg hin und her. Der gute Buchbindermeister wurde zerstreut und band ein Werk über die vegetarische Ernährung Deutschlands in Schweinsleder, wofür er nichts bezahlt bekam.
Elschen aber ging mit betrübten Sinnen umher. Eines Tages hörte sie mitten auf der Strasse, im argen Schneetreiben ihren Namen nennen. Sie sah sich um — nichts. Sie guckte in die Luft, dass ihr die weissen Flocken ins Stumpfnäschen stiebten — da erblickte sie einen Bollewagen, der dicht am Rande des Bürgersteiges hielt. Eine flotte Kutscherin in blauer Schürze kletterte eben behend von dem hohen Bock und begann lachend den umherstehenden Frauen aus dem viereckigen Wagen Milch zu schenken, und die Milchkarten einzuheimsen, wobei es nicht immer ohne kleine Meinungsverschiedenheiten abging. Eine Kundin meinte, ob denn die Bollekühe endlich mehr Milch zu geben gesonnen seien, und ob sie nicht auch mal Vollmilch von sich geben könnten, statt immerzu Magermilch. Worauf die Kutscherin erklärte, die Kühe richteten sich nach den Verordnungen des Magistrats, nur die Ochsen sähen nicht ein, dass das grösstenteils zu Nutz und Frommen der Bürger wäre — worauf sich die Kritikerin unter dem Gelächter der übrigen Hausfrauen entfernte. Minna, die Bollekutscherin, wandte sich Elschen zu, das noch mit weitaufgerissenen Augen dastand und zusah.
„Was hast du für ein Organ bekommen!“ stiess Elschen endlich heraus, worauf die Freundin erklärte, das bringe die Selbständigkeit mit sich. Man müsse schon mal ’ne Lippe riskieren, wenn man die Männer ersetze. Ein Wort gab das andere. Die Bollekutscherin sagte, jetzt sei eine Zeit, in der es für die Frauen Wichtigeres zu tun gäbe, als nur Strümpfe zu stopfen, und im übrigen „Selbst sei das Weib“.
Elschen klagte Minna ihr Leid, dass sie den Hinrichsen nehmen solle, der „d. u.“ und frei von Überraschungen sei, worauf die von Bolle sagte, das sei Völkerrechtsbruch und die deutsche Frau hätte ihre Rechte auf die Zukunft, und die dürfte nicht im Wasser liegen, sonst sei es Essig. Elschen sollte einfach aufhören, den Eltern auf der Tasche zu liegen, die Zeit sei eine andere als vor etlichen Jahren noch, und es gelte, sich nützlich zu machen, dann habe man auch ein entsprechendes Selbstbestimmungsrecht.
„Geh doch zur Elektrischen! Zivildienst!“ Das waren die letzten Worte, dann stieg die von Bolle auf ihren Kutscherbock, winkte noch mit der Peitsche, riss den Gaul herum, als hätte sie im Leben nie einen anderen Reisser gemacht und fuhr durch das Schneegestöber weg.
In Elschens Herzen aber ging die Sonne auf.
Zivildienst!
Ach, sie kam sich so überflüssig vor, seit Martin fort war. Für einen beurlaubten Krieger, der aus dem Schützengraben kam, zu sorgen, das war doch schliesslich ein Beruf und ein Zweck. Und wenn sie Martin Knesebecks Frau hätte sein können — Gott doch, das konnte man auch eine Bestimmung nennen. Aber nun!
Sie hatte so ein unbändiges Verlangen, nützlich zu sein auch das Ihre beizutragen in dieser gewaltigen, waffenklirrenden Zeit, einmal sagen zu können: Auch ich habe das Meine getan, dass wir damals durchhielten, als sich die Welt gegen uns beschwor und sogar der letzte Zulukaffer und Hottentotte von England als Kämpfer für die Freiheit der Menschheit aus seinem schmutzigen Lehmwinkel geholt wurde.
Der Rat der Freundin liess sie nicht mehr schlafen, und ohne sich mit den Eltern lange auseinander zu setzen, meldete sie sich eines schönen Tages zur „Elektrischen“ und wurde nach ärztlicher Untersuchung für tauglich befunden.
Nun stellte sie ihre Eltern vor die vollendete Tatsache. Und da die alte Ohnesorg eben nur ihr eigenes Blut erkannte, das da rebellisch wurde und nicht untätig sein konnte, so gab sie ihren Segen, und Vater Ohnesorg küsste sein Elschen und bat sie, doch bloss nicht unter die Räder zu kommen, denn das sei jetzt am naheliegendsten.
Elschen also machte ihre Lehrzeit durch und eines schönes Tages ihre Probefahrt. Angetan mit der Ledertasche und dem Knipser fuhr sie in Begleitung eines gelernten Beamten durch die Stadt, und Frau Ohnesorg schleppte ihren Gatten zehnmal auf der gleichen Linie durch die Nummer 16 der Elektrischen, damit sie ihr Elschen als Zivildienstlerin sehen konnte.
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