Etwas war jedenfalls gut an der Sache – wenn man überhaupt so denken durfte, wenn jemand gestorben war. Tante Anneli hatte viel von ihrer Liebe Heli und ihrem Bruder Putte gegeben. Eigene Kinder hatte sie nicht mehr bekommen.
Außerdem, und das war das Beste, außerdem war Anneli mit Gunni befreundet, der der Stall und die Islandpferde gehörten. Tante Anneli hatte Heli mit zum Stall genommen.
Heli konnte sich noch an das unsichere Gefühl erinnern, wie es war, als sie das erste Mal eine Hand ausstreckte und eins der Pferde berührte, den warmen, etwas wolligen Körper. Das Fell war weich oder auch rau, und es roch so fremd im Stall. Das Pferd wandte ihr sein langes Gesicht zu und betrachtete sie. Es hatte glänzende dunkle Augen.
„Ist das ... gefährlich?“, hatte sie gefragt und einen Schritt rückwärts zu Tante Anneli gemacht. In dem Augenblick schnaubte das Pferd und schüttelte sich. Tante Anneli lachte, aber nicht boshaft, sie gehörte nicht zu denen, die Leute auslachten, die Angst vor Pferden hatten.
„Somi ist ein besonders nettes kleines Pferd“, sagte sie und legte sanft die Hand auf das Pferdemaul. Das Tier stand ganz still.
Tante Anneli hatte ihr gezeigt, wie man ein Pferd sattelte und zäumte, und dann durfte Heli helfen, Somi auf den Hof zu der eingezäunten Reitbahn zu führen.
Es war nicht leicht, auf den Pferderücken zu kommen. Man glaubt, Islandpferde sind klein, aber wenn man aufsitzen will, merkt man, dass das keinesfalls so ist. Schließlich saß Heli jedenfalls oben, und Somi stand die ganze Zeit still, obwohl es ein unangenehmes Gefühl sein musste, wenn so ein tolpatschiges Mädchen versuchte, auf seinen Rücken zu gelangen.
Aber dann saß sie jedenfalls oben und spürte den lebendigen Pferdekörper unter sich. Somis Mähne war ziemlich dicht, Heli wurde von einem starken und unerwarteten Glücksgefühl erfüllt.
Tante Anneli war sehr lieb. Sie begann, Heli Reitunterricht zu bezahlen. Einmal in der Woche holte sie Heli ab, und dann fuhren sie zu den Pferden hinaus.
„Es ist schön, wenn man jemanden hat, mit dem man seine Interessen teilen kann“, sagte sie. „Oder hast du Lust mit Reiten anzufangen, Eeva?“
Helis Mutter lachte verlegen.
„Nein, aber darum geht es doch gar nicht, Anneli. Es geht darum, wie wir das wieder gutmachen können.“
„Wenn du nicht aufhörst, so zu reden, werd ich böse auf dich!“, sagte Tante Anneli.
Und dann hatten sie nicht mehr über die Sache gesprochen. Das war nun schon mehrere Jahre her.
Jetzt fuhr Heli mit dem Fahrrad zum Stall, und sie war so oft dort, wie sie es sich erlauben konnte. Gunni ließ sie manchmal umsonst reiten, weil Heli half, den Stall sauber zu halten. Sie durfte mit der Dienstagsgruppe in den Wald reiten, ein Ausflug, der ungefähr eine oder zwei Stunden dauerte. Sie half Gunni, Tee für die Thermoskannen zu kochen, die sie mitnahmen. Am Ranberg machten sie Rast, ließen die Pferde ausruhen und aßen ihren Proviant, der im Preis für die Gruppenreiter inbegriffen war.
Heli war dienstags oft schon in Reitkleidung in die Schule gegangen und nach der Schule direkt zum Stall gefahren. Aber das ging jetzt nicht mehr. Sie musste erst nach Hause gehen und sich umziehen und dann wie eine Verrückte zum Stall radeln. Sie wollte absolut nicht, dass Liza mitkam. Gunni und die Pferde wollte sie für sich allein behalten.
Sie überlegte, dass sie ihre Reitsachen in Zukunft in einem Schrank bei Gunni aufheben müsste. Dann würde es leichter sein, sich davonzustehlen. Aber der Dienstag war plötzlich nicht mehr so schön wie früher.
In der letzten Stunde hatten sie Englisch. Heli konnte sich kaum konzentrieren. Sie saß angespannt da. Wie sollte sie verschwinden, ohne dass Liza es merkte und sich an sie hängte. Oh, sie wollte in Ruhe gelassen werden!
Jetzt war Liza mit Lesen an der Reihe. Sie lasen in einem langweiligen Buch, das von einer englischen Familie Smith handelte. So hießen alle englischen Familien.
Liza war gut in Englisch. Sie war häufig im Ausland gewesen. Früher, bevor ihr Vater in Konkurs gegangen war.
„Very good, Liza!“, sagte Beata Larsson. „Und jetzt, Magnus, lies du weiter.“
Liza beugte sich zu Heli. „Wollen wir zusammen nach Hause gehen?“
Heli bekam ganz trockene Lippen. „Nein ... ich bin ... mit Mama verabredet.“
„Na, dann lass es!“
„Vielleicht morgen?“
„Mal sehen. Was wollt ihr machen, du und deine Mama?“
Zum Glück wurden sie von der Lehrerin unterbrochen.
„Lizandra und Heli, ihr sollt mitlesen anstatt zu flüstern.“
Heli wurde brennend rot. Die Lehrerin musste sie sonst nie zurechtweisen. Das war ungerecht. Schließlich hatte nicht sie angefangen zu reden.
Dieser Dienstag war kein guter Tag. Heli schaffte es, nach Hause zu radeln, ohne dass Liza es merkte, und sie schaffte es auch hinaus zum Stall. Aber irgendetwas stimmte nicht. Die Freude und die Harmonie waren gestört.
Gunni war auch nicht wie sonst. Sie war kurz angebunden und wirkte gestresst. Sie sagte, sie habe Kopfschmerzen.
Sie ritten in einer Gruppe zu fünft aus; Gunni auf Harpa, Tante Anneli auf Aurvakur, Heli auf Sterni und ein Vater mit seiner Tochter auf Somi und Krummi. Der Vater hieß Dan. Er war erst zwei Mal geritten und wollte noch nicht gern galoppieren. Deswegen hatte Gunni ihm den gutmütigen Krummi gegeben.
Ein Funke von Freude kehrte zurück, als sie zwischen die Bäume kamen. Und dann wurde es doch sehr schön. Aber es wurde rasch dunkel, der Ausritt war kürzer, und für eine Pause blieb keine Zeit.
Vielleicht war nun überhaupt Schluss mit den Ausritten. Daran war die Schule schuld. Wenn die Schule nicht wäre, könnte Heli vormittags herkommen, solange es noch hell war. Sie könnte direkt von zu Hause hinfahren und brauchte sich nicht vor Liza zu verstecken.
Eigentlich war die Schule ganz überflüssig. Heli würde sowieso niemals etwas anderes machen, als mit Pferden zu arbeiten. Und deshalb war Gunnis Stall die beste Schule.
Tante Anneli kam an Helis Seite geritten. „Was ist mit dir, Krümel?“, fragte sie freundlich.
„Alles in Ordung.“
„Du bist so still. Du hast doch keinen Ärger zu Hause?“
„Nein, nein.“
„Aha. Und die Schule, geht es gut in der Schule?“
„Wie immer.“
Gunni drehte sich um. Sie ritt an der Spitze, den schnellen, nervösen Harpa. „Wollen wir tölten?“, rief sie.
Sobald die Pferde das Wort hörten, zuckten sie zusammen, und dann begannen sie auf diese schnelle, fließende Weise zu laufen, wie es Islandpferde können. Aber nicht alle tölten. Manche wollen lieber traben, und dann macht es nicht so viel Spaß, im Sattel zu sitzen. Man hat dann leicht das Gefühl, als ob einem alle inneren Organe durchgeschüttelt würden. Und leicht traben kann auch nicht jeder.
Sterni ließ sich nicht so einfach zum Tölten bringen. Heli setzte sich tief in den Sattel und verkürzte die Zügel. Man musste sich vorstellen, dass man den Pferdekörper sanft verkürzte und zusammenzog, hatte Gunni gesagt. Dann sollte man dem Pferd Schenkeldruck geben. Sterni machte ein paar Töltschritte, fiel dann aber wieder in ihren ruckartigen Trab.
Nein, an diesem Tag klappte es nicht. Heli wusste es. Und als sie nach Hause radeln wollte, konnte sie ihren Fahrradschlüssel nicht finden. Sie musste das Rad hinter Gunnis Wirtschaftsgebäude abstellen. Tante Anneli brachte sie mit dem Auto nach Hause.
Tante Anneli kam eine Weile mit nach oben.
„Es ist doch ganz nett, hin und wieder seine kleine Schwester zu treffen“, sagte sie. „Heute Abend muss sie doch nicht arbeiten?“
„Nein.“
Sobald sie in den Flur kamen, merkte Heli, dass Ralf da war. Sie sah seine braune Jacke und seine großen Schuhe. Ralf war ein Mann, den Mama manchmal traf. Manchmal übernachtete er bei ihnen. Er hatte ein paar Häuserblocks entfernt eine Ein-Zimmer-Wohnung.
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