Hast du das gehört? Der Sheriff packte den Leprösen an der Schulter und grub ihm die Finger so fest ins Fleisch, dass der vor Schmerz aufschrie. Unser Gast hat Hunger. Wie wär’s, wenn du ihm was abgibst?
Esteban wand sich unter dem Griff des Gesetzeshüters. Das ist meins, sagte er. Mein Essen.
Er hat Hunger, sagte der Sheriff. Außerdem isst er dir ja nicht das ganze Essen weg, also entspann dich. Nur ein paar Bissen.
Kopfschüttelnd starrte ich das blutige Stück Fleisch an. Ich halt’s schon noch aus, sagte ich. Ich will keinem was wegnehmen.
Der Sheriff funkelte mich böse an und schnauzte: Sie essen jetzt was. Verdammt noch mal, Sie essen jetzt.
Und dann lag im Handumdrehen ein Stück blutiges Fleisch auf einem Blechteller. Dabei hatte der Pfarrer gesagt, es gäbe in der Stadt keine Viehhaltung.
Sie essen jetzt, sagte der Sheriff wieder. Scheiße, bis zum letzten Bissen werden Sie diese Delikatesse aufessen.
Dann ging alles ganz schnell. Ehe ich reagieren konnte, packten mich der Pfarrer und der Doktor und zerrten mir die Arme auf den Rücken, während der Sheriff einen Fetzen Fleisch abriss und mir in den Mund stopfen wollte. Aber wie ein widerborstiges Kleinkind presste ich die Lippen aufeinander und trat um mich. Obwohl mich zwei Mann festhielten, konnte ich mich losreißen und wollte mich gerade vom Stuhl erheben, als mein alter Freund Charlie eingriff. Mit vereinten Kräften warfen er, der Pfarrer und der Doktor mich auf den Boden und fixierten mich. Der Sheriff trat dazu, spannte den Hahn seines Revolvers und zielte auf meine Stirn. Da gab ich den Widerstand auf.
Unterdessen war der Bettler außer sich darüber, dass sein Essen gestohlen worden war. Er sprang herum und warf die leprösen Arme in die Luft. Dazu schrie und stöhnte er.
Der Sheriff, der verdammte Schweinehund, ging in die Hocke und befahl mir, den Mund aufzumachen. Kurz sah ich ihn an, aber er hielt die Waffe weiter auf mich gerichtet, sodass ich den Mund öffnete, um mir das blutige Fleisch hineinstopfen zu lassen. Sehen Sie’s als Initiation, sagte er.
Ich kaute langsam und verächtlich, während die Männer mit einem grotesken Lächeln auf mich herabsahen. Esteban weinte. Das Fleisch schmeckte grauenhaft – wahrscheinlich war es bereits verdorben –, aber am Ende gelang es mir, es ohne Würgen zu schlucken. Als ich es geschafft hatte, half mir Charlie auf die Beine und rieb mir die Schulter. Sie alle lachten, als wäre das Ganze ein einziger Riesenscherz.
Habt ihr sein Gesicht gesehen?, sagte der Doktor. Unbezahlbar.
Eigentlich hat er’s besser gemacht als die meisten, sagte der Sheriff. Das muss man ihm lassen.
Ich hab doch gesagt, dass er ein guter Typ ist, sagte Charlie. Einer vom alten Schlag.
Gut, der Mann, pflichtete der Pfarrer bei.
Allerdings stand mir der Zorn wohl ins Gesicht geschrieben, denn Charlie sah mich an und sagte: Komm schon, Russell, ist doch nichts dabei. Diesen kleinen Scherz machen wir bei allen Fremden. Das bisschen Fleisch schadet dir nicht, keine Sorge. Ist ja nur Straußenfleisch. Das ist doch keine große Sache, also hab dich nicht so.
Während Charlie dahinfaselte, fiel mir Alana wieder ein. Der Gedanke schnürte mir den Hals zu. Ich spielte Karten und aß Straußenfleisch, während das kleine Mädchen in Lebensgefahr war (wenn nicht schon tot). Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. Alles war falsch. Ich griff in meine Hosentasche und zog das Foto heraus, um es wie ein Kruzifix zu reiben.
Was haben Sie denn, Russell?, sagte der Doktor. Sie sehen aus, als ginge es Ihnen nicht gut.
Das Bild eines Mädchens, sagte ich. Alana heißt sie. Sie ist verschwunden. Und in Gefahr.
Na klar, sagte der Sheriff. Wir alle kennen sie, die kleine Alana. Selbstverständlich. Meine Leute untersuchen zur Stunde ihr Verschwinden. Machen Sie sich keine Sorgen. Die finden wir schon, verlassen Sie sich drauf …
In genau diesem Moment hörte ich auf dem Gang Schreie. Die Männer sahen sich an, unternahmen jedoch nichts, als die Augenbrauen hochzuziehen und den Kopf zu schütteln. Das Kreischen ging weiter.
Was zum Teufel ist da los?, fragte ich.
Nichts, sagte der Pfarrer. Bleiben Sie einfach bei uns. Machen Sie sich keine Gedanken über das Geschrei. Da hat nur ein Mädchen ihren Spaß, das ist alles. Die Stadt ist ein großer Sündenpfuhl, das kann ich Ihnen sagen.
Einen Augenblick stand ich da und überlegte. Dann stürzte ich zur Tür.
Der Gang war jetzt mit Menschen gefüllt, aber sie alle waren still, standen an die Wand gelehnt da und blickten in dieselbe Richtung. Es waren unverkennbar die Schreie einer Frau, aber sie schrie vor Schmerz, nicht vor Lust. Keiner der im Gang Herumstehenden machte Anstalten, dem Aufruhr nachzugehen. Vielmehr schüttelten sie missbilligend den Kopf, als ich durch den Gang rannte, sahen sich an und begannen zu murren. Bei einem Blick über meine Schulter sah ich, dass der Sheriff und seine Spielkumpane aus dem Kartenzimmer gekommen waren. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte mir nach, ohne die Miene zu verziehen oder etwas zu meiner Unterstützung zu unternehmen.
Dann hörten die Schreie auf. Plötzlich war es vollkommen still. Ich verlangsamte meine Schritte, ging aber weiter, um die bedrohte Frau zu finden. War sie so übel zugerichtet worden, dass sie nicht mehr schreien konnte? Ich drehte mich wieder um. Die vielen Leute, die eben noch an der Wand gelehnt hatten, waren auf einmal verschwunden, entweder ein Stockwerk tiefer oder in eines der angrenzenden Zimmer gegangen. Ich war allein. Als ich weiterging, bemerkte ich aus dem Augenwinkel ein Foto an der Wand. Ein Junge, sechs oder sieben Jahre alt, der ein verächtliches Gesicht schnitt. Hinter dem Jungen waren eine Schaukel aus Metall und ein Meer aus Gras zu sehen, ein unendliches Meer aus Gras. Und der Junge auf dem Bild war ich.
Ich konnte mich nicht erinnern, wo und wann dieses Foto aufgenommen worden war, aber das Foto selbst kannte ich. Mein Blick glitt über die restliche Wand. Weitere Bilder von mir und meiner Familie. Als ich den Kopf in den Nacken legte, sah ich an der Decke die wohlvertrauten Fliesen mit Blumenmuster. Jetzt wurde mir klar, dass ich im Haus meiner Kindheit war. Ich hatte es nicht erkannt, weil es in einem so desolaten Zustand war, aber inzwischen sah ich immer klarer, und weitere Erinnerungen stellten sich ein. Wie ich stundenlang mit meinen heiß geliebten Superheldenfiguren spielte, die ich die Wände hochklettern ließ, um alles Böse um uns zu vernichten. Wie ich in der Kinderzimmerecke saß und Abenteuergeschichten schrieb und mit meinen Buntstiftstummeln illustrierte. Wie ich meine geliebten Comics las: Spiderman, Batman, Superman, die Fantastischen Vier und … So viele Stunden allein. Weil meine Mutter krank war. Weil mein Vater … Neuerliche Schreie rissen mich aus meinen Gedanken.
Sie kamen aus dem Zimmer direkt vor mir. Lauter als zuvor. Und zwischen den Schreien und dem Japsen nach Luft Rufe um Hilfe, Hilfe. Ich wollte den Türknauf drehen, aber die Tür war abgesperrt. Ich klopfte dagegen, immer fester und lauter, bis meine Hände schmerzten. Keine Antwort, nur weitere Schreie. Eines war klar: Außer mir würde niemand dieser Frau helfen. Sie würden sie sogar sterben lassen. Ich begann, gegen die Tür zu treten, doch sie war massiv und gab nicht nach. Ich fühlte mich hilflos. Wieder trat ich gegen die Tür, schlug mit den Fäusten dagegen und schrie: Ist da drin alles okay? Halten Sie durch, verstehen Sie?
Die Zeit verstrich, ich wurde heiser und meine Hände bluteten, aber das Schreien hörte nicht auf. Sie würden sie sterben lassen. So war das in Factory Town.
Nach einem weiteren Tritt flog die Tür auf und knallte gegen die Zimmerwand. Ich trat in einen Raum, dessen Boden mit Kleidungsstücken, Flaschen und Ampullen übersät war. Auf zerschlagenen Möbelstücken lagen Spieldosen, Zeitschriften und alte Puppen, die mich mit toten Augen ansahen. An der Wand Gemälde mit einer Wüstenszenerie und ein alter Kalender mit Kitschlandschaften. Das Fenster stand offen, und der weiße Vorhang flatterte panisch im Wind.
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