Aber Dr. Devil lachte nur. Sterben?, sagte er. Dazu hast du doch nicht den Mumm. Verdammt, du konntest nicht mal deine eigene Mutter beschützen. Deine eigene Mutter! Ja, genau, ich war bei euch zu Hause, als sie geschlagen und getreten und gequält und verstümmelt wurde, bis sie nur noch ein Klumpen blutiges Fleisch war. Und du bist bloß danebengestanden und hast geglotzt und dir in die Hose gepisst! Ich war bei euch zu Hause, als sie aufgehört hat zu essen, gehungert hat, bis sie nur noch Haut und Knochen war und gestorben ist. Du bist ein verdammter Feigling, hörst du? Du warst zu feig, dich mit deinem Vater anzulegen, und jetzt bist zu feig, Dr. Devil fertigzumachen.
Aber da lag Dr. Devil falsch.
In einem Ausbruch wilden Zorns rammte der Annullator dem Monster das Schwert in den Hals, ließ es für einen langen Augenblick stecken und riss es dann heraus. Leidenschaftslos sah er zu, wie das Leben aus Dr. Devil herausspritzte. Noch hatte Dr. Devil die Kraft, sich an den Hals zu fassen und die Wunde zuzudrücken, aber es war vergeblich. Nach einer Weile zuckte er heftig, die geschwollene Zunge fiel ihm aus dem Mund, und er lag still da, während seine Seele in die Feuerschlünde gesaugt wurde.
Der Annullator hob sein blutrotes Schwert und schob es zurück in die Scheide. Er wischte sich die Stirn ab und blickte zum Himmel. Lieber Gott, er hat es nicht anders gewollt.
Von dem Schauspiel schockiert, ging ich langsam an dem Jungen vorbei zum Treppenhaus. Er hat mein Gehen gar nicht bemerkt, und wenn doch, sagte er nichts.
Ich lief so hastig die Treppe hinauf, dass ich vor Anstrengung außer Atem geriet. Durchs Treppenhaus hallten die merkwürdigsten Geräusche: eine Arien singende Frauenstimme, die Lachkonserve einer Fernsehserie, eine klappernde Schreibmaschine. Zu guter Letzt kam ich an eine Tür, die ich aufstieß, aber sobald ich in den Gang getreten war, merkte ich, dass ich auf einer anderen Etage war. Mit dem vertrauten Gefühl von Angst ging ich ziellos durch den dunklen Gang. Auf der Suche nach einem Ausgang aus dem Gebäude geriet ich in immer neue Sackgassen und an falsche Türen, und ich wurde immer niedergeschlagener. Mehr als einmal kam ich sogar an eine Tür, die sich öffnen ließ, aber nur um jedes Mal vor einem Vorratsraum oder einer Haustechnikkammer zu stehen.
Auf diese Weise verging viel Zeit, bis ich zu meiner großen Erleichterung den unverkennbaren Schimmer von Licht mit den gespenstergleich aufstiebenden Staubpartikeln sah. Ich drückte die schwere Stahltür auf und trat ins Freie.
Ich atmete auf. Als ich mich umsah, begriff ich, dass ich wieder in der Stadtmitte war, doch jetzt sah alles irgendwie anders aus. Wieder fühlte ich mich wie ein Fremder.
Von außen ähnelte das Gebäude, aus dem ich gekommen war, jetzt einem aufgegebenen Krankenhaus. Drei Stockwerke, grauer Backstein, an jedem Giebelende ein hoher Schornstein. Vom Hauptgebäude gingen Flügel ab, die von absterbendem Efeu überwuchert waren. Viele Fensterscheiben waren zerbrochen, alle vergittert. Hinter dem Komplex erhob sich die Fabrik, ein turmhoher Koloss aus verzogenem Stahl, Laufgittern, gebogenen Rohren und Schloten.
Lange stand ich einfach da und starrte wie gebannt auf die Fabrik. Allem Anschein nach war sie verlassen, aufgegeben, doch dann bemerkte ich im trüben Licht der Mondsichel und der wenigen Sterne dünne Rauchfahnen, die aus den Schloten aufstiegen. Innerlich erschauerte ich, und im nächsten Moment wusste ich, dass mich diese Kälte nie wieder verlassen würde. Je länger ich die Fabrik anstarrte, desto klarer wurde mir, dass darin etwas geschah. Etwas Schreckliches geschah. Alle Geheimnisse der Welt waren hinter diesen Fabrikmauern verborgen, und ich, ich musste herausfinden, was …
Es war spätnachts oder frühmorgens, und ich war hungrig und müde. Ich ging über Straßen voll Schlaglöchern und Gehwege, die übersät waren mit Glasscherben, ausländischen Zeitungen, toten Vögeln und abgetragenen Schuhen. Mein Blick blieb stets auf die Fabrik gerichtet, aber egal wie lange ich ging, immer schien sie außer Reichweite zu bleiben, in weiter Ferne zu liegen.
Ich lenkte meine Gedanken auf mich und dachte an meine Aufgabe, die Suche nach dem Mädchen. Sofort befiel mich die Sorge, man könnte sie in ein Abraumbecken geworfen oder, noch schlimmer, unter Beton begraben haben. In meinen Ängsten gefangen, ging ich gefühlt immer im Kreis durch die Stadt, doch als ich aufsah, war die Fabrik aus meinem Blick verschwunden. Nicht einmal das Stadtzentrum war noch zu sehen. Ich riss mich zusammen und stellte fest, dass ich in einem alten, verkommenen Wohnviertel angelangt war. Es wehte ein kalter Wind, in dem ein paar sterbenskranke Schwarzpappeln träge schwankten. Ich sah eine Reihe dunkler einstöckiger Ranchhäuser mit Vorgärten, die aus nichts als Dreck und Unkraut bestanden. Irgendwo kämpften Katzen auf Leben und Tod. Eine Blechbüchse kollerte über den Gehweg. Sie blieb kurz vor meinen Füßen liegen, dann rollte sie weiter.
Ich hatte mich verlaufen. Ich überlegte, ob ich zu einem Haus gehen und anklopfen sollte, aber ich hatte zu viel Angst, dass jemand die Tür öffnete, der mit einem Gewehr oder einer Pistole bewaffnet war, während ich nichts hatte.
Plötzlich hörte ich leise Musik. Zuerst hielt ich es für Einbildung, doch als ich weiterging, wurde die Musik lauter, klarer. Es klang wie Doo Wop aus den Fünfzigern, untermalt von Gelächter.
Ich ging schneller. Immer der Musik nach lief ich über einen Rasen, auf dem Bierdosen und Werkzeuge herumlagen. In der Dunkelheit begann ein Pitbull zu bellen und zu knurren. Er stürzte immer wieder auf mich zu und hätte mich am liebsten zerfleischt, aber weil er an einen Pfahl gekettet war, konnte er nichts weiter tun, als sich fast zu erdrosseln. Ich sprang über den Zaun und lief über ein gefrorenes Feld und einen kleinen Graben entlang, bis ich ein großes Farmhaus mit hell erleuchteten Fenstern sah. Von dort stieg die Musik in den Nachthimmel auf.
Mit großen Augen und offenem Mund tat ich einen weiteren Schritt nach vorne, stolperte jedoch und wäre beinahe mit dem Gesicht voran auf das gefrorene Feld gefallen. Als ich mich auf die Knie hochrappelte und umdrehte, sah ich, dass ich über die Beine eines Mannes gestolpert war. Gegen einen Baumstamm gelehnt dasitzend, der Kopf auf die Brust gesunken, sah er aus wie tot.
Er trug einen Overall, aber trotz der Eiseskälte keine Jacke. Es hatte bestimmt einige Minusgrade. Sein Gesicht war bleich und wächsern. Ich robbte neben ihn und sagte: Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Keine Antwort. Ich rutschte näher und tippte an sein Knie. Mister? Nichts. Ich starrte auf seine Brust, seine Schultern, seinen Mund, prüfte, ob er atmete. Nichts.
Ich setzte mich auf, holte mehrmals tief Luft und überlegte. An dieser Stadt war alles merkwürdig, nichts ergab Sinn. Was würde geschehen, wenn ich zu diesem Haus ginge und sagte, dass auf dem Feld ein Toter lag? Würde man womöglich mich für den Mörder halten? In so einer Stadt waren Fremde sicher nicht willkommen, davon konnte man ausgehen. Würde man die Polizei rufen? Einen Krankenwagen? Gab es in dieser Stadt überhaupt eine Polizei?
Mit zitternden Knien stand ich auf. Und genau in diesem Moment fuhr der Kopf des Toten hoch, seine Augenlider klappten auf, und die Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.
Meine Güte, Russell, sagte er. Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.
Zu Tode erschrocken sprang ich zurück. Ein paar Sekunden geschah gar nichts. Der Mann grinste bloß. Endlich erkannte ich ihn. Charlie Gardner, ein Freund aus Kindertagen, den ich jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Ich seufzte erleichtert.
Charlie, sagte ich. Was machst du denn hier?
Er grinste weiter, dann schüttelte er den Kopf. Ach, ich hab nur einen Jux gemacht. Ich wollte ein bisschen frische Luft schnappen, und als ich gesehen hab, dass du hier rumläufst, dachte ich, ha, ich erschreck dich mal. Hat ja auch geklappt, was?
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