Sie schien erleichtert und fragte lächelnd:
–Ist’s auch wirklich wahr?
Er blickte ihr in die Augen:
–Mein Ehrenwort!
–Gut, nehmen wir die Billets! sagte sie.
Unterwegs konnten sie sich kaum unterhalten, denn das Coupé war voll. Als sie in Maisons-Laffitte ankamen, gingen sie sofort zur Seine.
Die laue Luft that Körper und Geist wohl, die Sonne strahlte auf den Fluß, auf das Blättermeer, auf den Rasen und zauberte tausend lichte, heitere Gedanken in Körper und Seele.
Hand in Hand gingen sie am Ufer hin und sahen zu, wie die kleinen Fischchen in Schwärmen im Wasser dahinzogen. Sie schritten in überirdischem Glück dahin, als läge die Erde tief unter ihnen. Endlich sagte sie:
–Sie müssen mich doch für verrückt halten!
–Warum denn?
Sie meinte:
–Es ist eine Tollheit, mit Ihnen so ganz allein hierherzufahren.
–Aber nein, das ist doch ganz natürlich!
–O, bitte, bitte, gar nicht natürlich, für mich nicht. Ich will keine Dummheit machen und so kommt man doch dazu. Aber wenn Sie wüßten, wie traurig die Tage dahingehen, einer wie der andere, jeder Tag im Monat, jeder Monat des Jahres. Ich bin ganz allein mit meiner Mutter, und da sie viel Kummer in ihrem Leben gehabt hat, ist sie nicht gerade lustig. Ich sehe zu, wie es geht, ich versuche trotzdem zu lachen, aber es glückt nicht immer. Wissen Sie, es ist doch falsch, daß ich hierher gekommen bin, aber Sie müssen mir nicht böse sein.
Als Antwort küßte er sie schnell aufs Ohr, aber sie riß sich mit heftiger Bewegung von ihm los und ward plötzlich böse:
–Aber Herr Franz, denken Sie an Ihr Wort!
Und sie kehrten nach Maisons-Laffitte zurück. Sie frühstückten im Kleinen-Hafen, einem niedrigen Hause, das ganz unter vier Pappeln an der Straße versteckt lag.
Die frische Luft, die Wärme, ein paar Gläser Wein und das seltsame Gefühl, sich eng beieinander zu befinden, trieb ihnen die Röte ins Gesicht und machte sie schweigsam. Aber nachdem sie ihren Kaffee getrunken, kam jähe Heiterkeit über sie. Sie gingen über die Seine, strichen wieder längs des Flusses hin dem Dorf La Frette zu. Plötzlich fragte er:
– Wie heißen Sie?
– Louise.
Er wiederholte:
– Louise?
Dann schwieg er.
Der Fluß beschrieb einen großen Bogen, lief am Strande in der Ferne an einer Reihe weißer Häuser hin, die sich umgekehrt im Wasser spiegelten.
Das junge Mädchen pflückte Gänseblümchen, machte einen großen Strauß aus Feldblumen, und er sang laut voller Lebensfreude, wie ein Füllen auf der Koppel.
Links von ihnen zogen rebenbekränzte Hügel am Flusse hin, und Franz blieb plötzlich stehen und sagte ganz erstaunt:
– O, sehen Sie einmal!
Die Weinberge hatten aufgehört, und der ganze Abhang war jetzt mit blühendem Flieder bedeckt, wie ein lila Wald. Gleich einem über die Erde gebreiteten Riesen-Teppich, der bis zum Dorfe reichte dort drüben, zwei oder drei Kilometer entfernt.
Auch sie blieb ganz bewegt und gepackt stehen und rief:
– Ach, ist das hübsch!
Sie durchschritten ein Feld, und dann liefen sie jenem seltsamen Hügel zu, der jährlich all den Flieder liefert, den in Paris die fliegenden Händler auf ihren kleinen Handwagen verkaufen.
Ein schmaler Weg verlor sich unter den Bäumen; sie wählten ihn, und dann setzten sie sich auf einen Rasenfleck. Milliarden von Fliegen summten über ihnen, daß man in der Luft unausgesetzt ein leises Surren hörte, und die Sonne, die heiße Sonne eines windstillen Tages, lag auf dem blühenden Uferrand und entlockte diesem blühenden Walde einen starken Duft, diesen Schweiß der Blumen.
In der Ferne klang eine Glocke.
Und ganz allmählich begannen sie, sich zu küssen, umarmten sich, im Grase ausgestreckt und dachten nur an ihre Zärtlichkeit.
Sie hatte die Augen geschlossen und umklammerte ihn, preßte ihn an sich, sie hatte die Besinnung verloren, von Kopf bis zu Fuß in Liebesleidenschaft, und ohne zu wissen, was sie that, überließ sie sich ihm, ja fast ohne zu verstehen, daß sie es gethan.
Sie erwachte voller Verzweiflung, begann zu weinen, stöhnte vor Schmerz und versteckte das Gesicht in ihren Händen. Er versuchte sie zu trösten, aber sie wollte fort, fort, gleich nach Hause, und sie klagte immer, indem sie eilig davonlief:
– Mein Gott! Mein Gott!
Er sagte:
– Louise, Louise, warte doch, bitte, bitte!
Sie hatte hohle Augen und glühend rote Wangen, und sobald sie in Paris auf dem Bahnhof waren, lief sie ihm davon, sogar ohne Lebewohl zu sagen.
Als er sie am nächsten Tage im Omnibus wieder traf, schien sie ihm verändert, abgemagert, und sie sagte:
– Ich muß mit Ihnen sprechen, wir wollen am Boulevard aussteigen.
Sobald sie allein auf der Straße waren, meinte sie:
– Wir müssen Abschied voneinander nehmen, nach dem, was da geschehen, kann ich Sie nie wiedersehen.
Er stammelte:
– Aber warum denn?
– Ich kann nicht; ich habe gesündigt, und ich will’s nie wieder thun.
Da bat er sie, flehte sie an, immer gequält von seinen Wünschen, ganz verrückt in dem Gedanken, sie ganz zu besitzen in der Einsamkeit einer Liebesnacht.
Aber sie antwortete beharrlich:
– Nein, ich kann nicht! Ich kann nicht! Ich will nicht!
Er regte sich auf, ward immer lebhafter, versprach, sie zu heiraten. Sie sagte immer noch:
– Nein!
Und sie verließ ihn.
Acht Tage lang sah er sie nicht wieder, er konnte ihrer nicht habhaft werden, und da er ihre Adresse nicht kannte, meinte er, sie wäre ihm für immer verloren. Am neunten Tage abends klingelte es bei ihm, er öffnete – – sie war es. Sie warf sich in seine Arme und widerstand nicht mehr.
Drei Monate dauerte ihre Liebe, er begann schon, sie etwas satt zu bekommen, als sie ihm mitteilte, daß sie sich Mutter fühle. Da hatte er nur noch einen Gedanken: sie unter allen Umständen los werden.
Da er es aber nicht fertig brachte, nicht wußte, wie er es anfangen, wie er es ihr sagen sollte, und die Verzweiflung ihn packte, die Angst vor diesem immer wachsenden Kinde, faßte er einen verzweifelten Entschluß: Er zog eines Nachts aus seiner Wohnung aus und verschwand.
Der Schlag war so fürchterlich, daß sie nach ihm nicht suchte, der sie verlassen. Sie warf sich ihrer Mutter zu Füßen und beichtete ihr Unglück.
Ein paar Monate darauf gebar sie einen Knaben.
Jahre strichen hin, Franz Tessier ward älter, ohne daß sich in seinem Leben etwas verändert hätte. Er führte noch immer das monotone traurige Dasein der Bureaukraten, die keine Hoffnung haben und nichts erwarten können.
Täglich stand er zur gleichen Stunde auf, legte denselben Weg durch die gleichen Straßen zurück, trat durch dieselbe Thür, und ging an dem gleichen Portier vorbei in dasselbe Bureau, setzte sich auf denselben Stuhl und that dieselbe Arbeit.
Er stand allein auf der Welt, allein Tags über mitten unter seinen gleichgültigen Kollegen, allein Nachts in seiner Junggesellen-Wohnung. Monatlich legte er zehn Franken für seine alten Tage zurück.
Jeden Sonntag ging er in den Champs Elysées spazieren, sah die elegante Welt vorüberfahren, die Equipagen und die hübschen Frauen, und am nächsten Tage sagte er zu seinem Kollegen am Schreibtisch:
– Die Rückfahrt aus dem Bois war riesig elegant gestern.
Da trat er eines Sonntags zufällig, als er einen anderen Weg gegangen, in den Park Monceau. Es war ein herrlicher Sommermorgen. Die Kindermädchen und die Mütter saßen in den Alleen und sahen den Kindern zu, die vor ihnen spielten. Aber plötzlich fuhr Franz Tessier zusammen. Eine Frau ging vorüber, sie führte zwei Kinder an der Hand, einen kleinen Jungen von etwa zehn und ein kleines Mädchen von etwa vier Jahren. Sie war es!
Er ging noch hundert Schritte weiter, dann sank er auf einem Stuhl zusammen, zitternd von dem Eindruck. Sie hatte ihn nicht wiedererkannt. Da ging er den Weg zurück und suchte sie noch einmal zu erblicken.
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