»Als wenn ich das nicht wüßte, nur… es war ein solcher Schock.«
Egon sah sich um. »Wo steckt Sven?«
»Liegt hinter den Johannisbeerbüschen und schmökert. Den brauchst du nicht zu suchen.« Sie seufzte. »Manchmal denke ich: man muß seine Kinder sehr lieben, um sie ertragen zu können.« Egon lachte.
Knut Miller hatte Sonntagsdienst im Kreiskrankenhaus, eine Verpflichtung, die unter den jungen Medizinern aus verständlichen Gründen wenig beliebt war, besonders dann, wenn, wie heute, der Chef der Klinik, Dr. Ernst Kettner, diensthabender Arzt war.
Dr. Kettner war seinen Assistenten und Volontären gegenüber von unnachsichtiger Strenge. Man sagte ihm nach, daß er sich durch das gebieterische Regiment, das er in der Klinik führte, für die Demütigungen entschädigen müsse, die ihm von seiner Gattin, Tochter eines einflußreichen Politikers, zugefügt würden. Für ihn war der Sonntagsdienst ein Greuel, und seine Laune war dementsprechend. Er haßte es, wenn die Besucher in hellen Haufen das Krankenhaus überfielen, die Patienten – so sah er es jedenfalls – aufregten und beunruhigten, sie zu Diätsünden verführten und ihn selbst womöglich noch mit dummen Fragen belästigten.
Sein schönster Moment war es, wenn die Turmuhr endlich sechs schlug. »Sehen Sie zu, daß Sie die Leute rausbringen, Miller«, befahl er, »aber ein bißchen dalli, wenn ich bitten darf.«
»Wird gemacht, Herr Chefarzt«, erwiderte Knut vergnügt und salutierte, Hand an der Stirn, obwohl er sehr gut wußte, daß Dr. Kettner für dergleichen Späße nichts übrig hatte; aber er mußte sciner Freude darüber, daß dieser ungute Tag für ihn nun bald ein Ende hatte, Luft machen.
»Hören Sie auf, den Clown zu spielen«, sagte Dr. Kettner Unwillig, »das ist eines angehenden Arztes unwürdig.«
Knut grinste nur und verzog sich. Die Aufgabe, die vor ihm lag, war leicht genug zu erfüllen. Die Besucher wußten ohnehin, wann sie sich zu verziehen hatten, die meisten taten es nicht einmal ungern und verabschiedeten sich rasch und mit dem erhebenden Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben. Wenn aber doch einmal einer Mutter die Trennung von ihrem Kind, einem Mann der Abschied von seiner Frau schwerfiel, dann genügte es, wenn »der Herr Doktor« eintrat, um stirnrunzelnd einen Blick auf die Fieberkurve über dem Krankenbett zu werfen.
Mit wehendem Kittel eilte Knut durch die Gänge und vergewisserte sich, daß die Zimmer sich leerten. Er war gerade im dritten Stock, der Erste-Klasse-Abteilung, angekommen und stürmte um die Ecke, als er plötzlich, wie ein Hund, der in vollem Lauf von seinem Herrn zurückgepfiffen wird, stehenblieb.
Schwester Ute war gerade aus Zimmer 312 gekommen. Sie starrte mit dem Ausdruck flammenden Grolls auf eine riesige kreisrunde Schachtel, die sie vor sich hertrug. Es war deutlich, daß sie sich völlig unbeobachtet fühlte. Sie war schön, die junge Schwester Ute, darüber war sich Knut mit sämtlichen Ärzten des Kreiskrankenhauses einig – nicht einer, der nicht schon einmal versucht hatte, mit ihr anzubandeln oder, falls er sich nicht traute, zumindest mit dem Gedanken gespielt hatte – sie war schön auf eine geradezu herausfordernde Weise. Das braunrote, volle Haar trug sie streng aus der hohen Stirn gebürstet, ihre Augen, braunrot wie das Haar, waren von dichten dunklen Wimpern umgeben, die Nase gerade und kurz, das Kinn fest und energisch, die Lippen schmal, und die Herbheit dieses statuenhaften Gesichtes wurde – jedenfalls im Dienst – nie durch einen Hauch von Schminke, von Rouge, Lidschatten oder Lippenstift gemildert. Dadurch wirkte sie in ihrer hellblauen Schwesterntracht, der schneeweißen leicht gestärkten Schürze, dem weißen Häubchen auf dem Haar, auf eine faszinierende Art sauber.
Jetzt machte sie eine wilde Bewegung, als wenn sie die runde Schachtel in den eisernen Papierkorb donnern wollte, tat es dann aber doch nicht. Sie blickte auf und geradewegs in die bewundernden und doch gleichzeitig belustigt blickenden Augen des jungen Mannes. Eine Blutwelle schoß ihr in Wangen und Stirn.
Knut war sie nie so schön erschienen wie in diesem Augenblick. »Ärger, Schwester?« fragte er.
»Sehen Sie sich das an!« Sie hielt ihm die mit einem Blumenbild bedruckte Schachtel hin. »Drei Wochen lang habe ich diesem alten Knacker das Stechbecken gereicht und ihm den Hintern ausgeputzt, und jetzt, wo er wieder über den Berg ist, schenkt er mir Pralinen!« Knut lachte. »Ich finde das nicht im geringsten komisch«, sagte sie, »ich möchte wirklich wissen, was sich so einer einbildet… und dabei hat er Geld wie Heu, liegt Erster Klasse, im schönsten Zimmer des Hauses.«
»Ja, so sind nun mal die Kapitalisten«, meinte Knut philosophisch, »wenn sie anders wären, hätten sie wahrscheinlich weniger Geld.«
»Aber darum geht es doch gar nicht!« rief sie wild. »Kapieren Sie denn nicht? Diese Schachtel hat mindestens fünfzig Mark gekostet, verlassen Sie sich drauf, ich kenne mich aus. Hätte er mir das Geld doch in bar gegeben! Aber Pralinen?!«
»Knabbern, nehme ich an.«
»Wenn ich nur die Hälfte aller Pralinen, die man mir zusteckt, knabbern würde«, sagte sie verächtlich, »wäre ich längst eine wandelnde Tonne. Wie kann ich das Zeug bloß loswerden?«
»Stiften Sie es der Kinderabteilung«, schlug Knut vor, »oder den Ordensschwestern.«
Ihr Blick flammte. »Aber ich will es verkaufen! Möchten Sie es nicht haben, Herr Miller? Es wäre ein schönes Geschenk für Ihre Freundin.«
Er schmunzelte. »Die darf also ruhig fett werden?«
»Sie wissen genau, wie ich es meine. Pralinen sind eine feine Sache, wenn man nicht dauernd damit gefüttert wird.« Sie legte den Kopf schief. »Ich weiß, daß Ihre Freundin sich darüber freuen würde.«
»Wenn ich aber nun gar keine habe?«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab. Außerdem …« Sie hielt ihm die Schachtel hin. »Ich lasse sie Ihnen für zwanzig Mark… und wenn Sie keine Freundin haben, dann doch bestimmt eine Mutter oder eine Schwester, die…«
Er fiel ihr ins Wort. »Wenn ich nun das Geschäft mit Ihnen mache, Ute – werden Sie mir dann auch einen Gefallen tun?«
»Kommt darauf an.«
»Ich verlange nicht viel von Ihnen.« Er streckte den Arm aus und stützte sich mit der Hand gegen die Wand, so daß sie eingeklemmt war. »Ich kaufe Ihnen die Schachtel ab, wenn Sie mit mir ausgehen.«
»Warum nicht?« fragte sie ruhig.
»Es gibt keinen Grund, der dagegen spräche. Sagen Sie ja.«
»Ja.«
Knut war von ihrer schnellen Bereitwilligkeit angenehm überrascht. Dann hatten die anderen, die Schwester Ute als eine uneinnehmbare Festung schilderten, also doch übertrieben – oder hatte sie etwa ein Auge auf ihn geworfen? »Fabelhaft!« Er beugte sich so nahe zu ihr, daß seine Lippen sie fast berührten.
Sie machte keine Bewegung der Abwehr. »Da kommt jemand«, sagte sie nur.
Er zuckte zurück. Tatsächlich watschelte eine ältere Ordensfrau den Gang entlang. Schwester Ute benutzte die Ablenkung, um unter seinem Arm hindurchzuschlüpfen. »Also?« fragte sie und hielt ihm fordernd die freie Hand hin. »Wie haben wir’s?«
Er begriff, daß er zu seinem Wort stehen mußte, griff unter seinen weißen Mantel in die Hosentasche, fischte zuerst einen Zehnmarkschein, ein Fünfmarkstück und dann endlich, in Mark und Groschen, das restliche Geld heraus, das er ihr in die ausgestreckte Hand zählte.
»Danke. Es war sehr klug von Ihnen, diese Okkasion zu nutzen.« Sie gab ihm die Pralinenschachtel und wandte sich zum Gehen.
»Hoppla, nicht so eilig!« Er erwischte sie gerade noch beim Arm. »Wir haben noch keine Verabredung getroffen… wann sind Sie heute abend frei?«
Sie blickte ihm gerade ins Gesicht. »Wieso interessiert Sie das?«
»Weil Sie mir versprochen haben…«
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