Die einzelnen Maßnahmen der städtischen Armenpflege gruppieren sich um drei Forderungen :
a) Alle Armen müssen – wie alle anderen Menschen auch – arbeiten.
b) Die Unterstützung der Armen hat sich jeweils am Einzelfall zu orientieren.
c) Die Armen müssen zu einem sittlichen Leben erzogen werden.
(4) Arbeitspflicht für alle : Vives entdeckt bei seinen Beobachtungen, dass die Armen in Brügge nicht arbeiten, sondern sich ihren Lebensunterhalt durch Betteln, mitunter auch durch Stehlen erwerben. Die Armen scheuen offenkundig die Arbeit. Für Vives gehört das Arbeiten aber zu den natürlichen Pflichten des Menschen; alle Menschen sind zur Arbeit verpflichtet, auch die Armen. Das Betteln lehnt er grundsätzlich ab ; es widerspricht seiner Auffassung nach der Anlage des Menschen. Vives nimmt konsequenterweise kranke, alte und gebrechliche Arme mit in die Arbeitspflicht hinein. Sie sollen so viel und das tun, was ihnen möglich ist. „Nichtstun“ ist allgemein verboten. Die Arbeitsfähigkeit der einzelnen Armen ist von Ärzten zu prüfen und zu dokumentieren. Alle arbeitsfähigen Armen müssen sich Arbeit besorgen, damit sie arbeiten und sich und ihre Familien ernähren können (vgl. a. a. O., 301–305).
Ziel des Unterstützungsplans von Vives ist es, die Armen langfristig mit Arbeit zu versorgen, um so die Armut dauernd zu beseitigen. Folglich entwickelt Vives ein differenziertes Programm zur Arbeitsbeschaffung . Jugendliche arbeitsfähige Arme sollen einen Beruf erlernen , am besten ein Handwerk, um dann in einer Werkstatt zu arbeiten oder sich gar selbstständig machen zu können. Erwachsene arbeitsfähige Arme, die schon einen Beruf erlernt haben, sollen wieder in ihre alte Berufstätigkeit zurückgeführt werden. Wenn für diese Armen aufgrund des Alters oder der Krankheit eine handwerkliche Tätigkeit nicht mehr infrage kommt, dann müssen andere, einfachere Formen der Arbeit gefunden werden, die sie leisten können, um auch sie auf Dauer der Unterstützungsbedürftigkeit zu entziehen. Dabei denkt Vives auch an so einfache Arbeiten wie Wasser aus dem Brunnen schöpfen und in die Häuser tragen. Es kommt ihm nicht auf den wirtschaftlichen Nutzen der Tätigkeit an, sondern auf die konsequente Durchführung der Arbeitspflicht.
Vives geht grundsätzlich davon aus, dass die Armen freiwillig arbeiten, wenn sie nur Gelegenheit dazu bekommen und darin durch Erziehung unterstützt werden. Er rechnet aber auch mit „verkommenen“ Armen, die sich jeder Arbeit gegenüber verweigern. Diese Verweigerer sind zu harter und mühseliger Arbeit zu zwingen und karg zu ernähren. Eine solche Zwangsbehandlung soll andere abschrecken und zur freiwilligen Arbeit animieren; außerdem soll sie die „arbeitsfaulen“ Armen durch körperliche Schwächung daran hindern, wieder in ihr altes lastervolles Leben zurückzukehren. Über die konkrete Form der Zwangsarbeit sagt Vives nichts weiter aus. Vives geht davon aus, dass Arbeitsstellen für die Armen nicht ohne Weiteres zur Verfügung gestellt werden. Deshalb soll die städtische Obrigkeit eingreifen, um die erforderlichen Arbeitsstellen zu beschaffen, falls die Produzenten und Handwerksmeister nicht freiwillig bereit sind, arbeitsfähige Arme aufzunehmen. Einzelnen Handwerksmeistern soll eine bestimmte Zahl von Armen zur Arbeit zugewiesen werden, die selbst keine Arbeitsstelle finden können. Handwerksmeister, die Arbeiter und Lehrlinge aufnehmen (mussten), sollen bei der Vergabe von Aufträgen durch die Stadt und kirchliche Einrichtungen bevorzugt behandelt werden. Die Stadt selbst soll ihrerseits Stellen für arbeitsfähige Arme schaffen beziehungsweise die Armen bei der Besetzung von Stellen besonders berücksichtigen. Vives legte aus pädagogischen Gründen Wert darauf, dass die Stadt keinen festen Unterstützungsfonds für die Armen in ihrem Etat einrichtet. Den Armen soll jede wirtschaftliche Absicherung verwehrt werden, damit der Arbeitswille und die Bereitschaft, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, geweckt werden und wach bleiben (vgl. a. a. O., 310).
(5) Materielle Unterstützung in besonderen Notlagen : Trotz der Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung – so meint Vives – wird es auch weiterhin Arme geben, die sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst durch Arbeit erwerben können. Die besondere Notlage dieser Armen ist von Beauftragten der Stadt zu untersuchen und ihre Unterstützung an den individuellen Untersuchungsergebnissen auszurichten. Alle Armen sind in ein Verzeichnis einzutragen; erfasst werden sollen alle Armen, sowohl diejenigen, die in Hospitälern der Kirche und der Stadt untergebracht sind, als auch die Hausarmen und die umherziehenden Armen. Mit dem Armenverzeichnis soll weder eine armenpolizeiliche Kontrolle noch die Absonderung der Armen, sondern eine planmäßige Versorgung der Armen mit Arbeit und Unterstützungsmitteln ermöglicht werden. Die Notlage, die Art ihres früheren Lebensunterhaltes, der Anlass ihrer Verarmung, die Lebensart, die Moral und die Arbeitsfähigkeit sollen genau festgestellt und in das Verzeichnis eingetragen werden. Diese Angaben sollen eine individuelle Förderung ermöglichen. Es sollen die Heilmittel angewendet werden, die am besten helfen. In den psychisch kranken Menschen, die damals als gemeingefährliche Irre angesehen und eingesperrt werden, sieht Vives ebenfalls arme Menschen, die es zu unterstützen und zu behandeln gilt.
Der Geber von Almosen hat seine Hilfe nach seiner eigenen Lage abzuwägen; er bestimmt, was, wieviel und wann er geben will. Dennoch ist die Aufmerksamkeit vor allem auf die Notsituation des Armen zu richten, die ja die Voraussetzung für jede Hilfe ist. Aus der Art der Notlage ergibt sich für den Geber, was nützlich ist; nach der Notlage sind Art, Umfang und Zeitdauer der Unterstützung zu richten. „Jeder soll in passender Weise behandelt werden“ (a. a. O., 304).
(6) Erziehung der Armen und ihrer Kinder : „Wir müssen nicht darauf sehen, was einer haben will, sondern was er haben muss, nicht darauf, ob es ihm gefällt, sondern ob es ihm nützt“, sagt Vives und setzt seine pädagogischen Überlegungen auf zwei Ebenen an, der übernatürlichen und der natürlichen Ebene (vgl. Vives 2006, 315). Man kann auch von einer theologischen und von einer anthropologisch-pädagogischen Ebene sprechen. Die Menschen haben sowohl den übernatürlichen Auftrag als auch den natürlichen Trieb zu helfen. Es ist Aufgabe der Kirche, das Gebot der Nächstenliebe zu verkünden, und es ist Aufgabe der Pädagogen, die Menschen zu einem guten Leben zu erziehen . Mit dem Erziehungsauftrag gegenüber den Armen und ihren Kindern integriert Vives seine Gedanken zur Armenpflege in seine gesamte pädagogische Theorie: Aufgabe der Pädagogen ist es, zu einem sittlichen Leben zu erziehen, indem der Weg des Lasters gemieden und der Weg der Tugenden gegangen wird (a. a. O.). Die Menschen sollen moralisch gefördert und zu guten Bürgern und frommen Christen erzogen werden. Besondere Aufmerksamkeit erhält die Erziehung der Kinder zur Arbeit. Die Stadt soll „jährlich 2 ernste und bewährte Männer zu Zuchtherren einsetzen“, die das Leben und die Sitten der Armen und ihrer Kinder, aber auch die Kinder der Reichen überwachen und darauf achten, dass sie zur Schule gehen und die nötige Erziehung erhalten (a. a. O., 306). In der Erziehung der Armen und aller Kinder sieht Vives den einzig brauchbaren Weg, Armut in der Gesellschaft erfolgreich zu verhindern. Diese optimistische Sicht der Erziehung steht in krassem Gegensatz zu seiner pessimistischen Einschätzung der Fähigkeiten und Bereitschaft des Menschen, sittlich gut zu leben. Die Hoffnung auf ein neues Zeitalter in Liebe und Eintracht konkurriert bei Vives mit seinen düsteren Erfahrungen menschlicher Habgier und Herrschsucht.
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