Eines schönen Tages werde ich Toulouse schonend beibringen müssen, dass mir Veranstaltungen, auf denen sich viel zu viele Menschen in viel zu enge Räume drängen und mit viel zu lauten Stimmen miteinander sprechen, ein absoluter Gräuel sind. Der bleierne Knoten in meiner Magengrube wächst zu einem greifbaren Etwas heran und er wächst noch einmal um ein beachtliches Stück, als wir uns an der Reihe vorbei durch das niedrige Eingangsportal quetschen und mir einer der genervten Wartenden einen heftigen Stoß in die Rippen versetzt.
Das Innere des Eingangsbereichs ist schrecklich düster. Nur hinter dem Glas des Ticketschalters brennt ein schwaches Petroleumlicht. Toulouse nickt dem hageren Mann mit der ausdrucklosen Miene am Schalter einmal kurz höflich zu und lüpft den Zylinder, das Raunen und Murmeln der anderen Besucher hinter sich mit gewohnter Gelassenheit ausblendend. Der Mann hinter dem Glas erwidert die Geste, doch selbst mit sehr viel Wohlwollen ist das Rucken der bärtigen Mundwinkel kaum als Lächeln auszumachen. Und selbst dieses kurze Rucken verschwindet augenblicklich wieder, als seine trüben Augen zu mir wandern. Sofort huscht die nichtssagende Miene zurück auf sein Gesicht.
»Ticket, Monsieur.«
Mit einer mechanisch anmutenden Geste streckt er seine knochige Hand durch das kleine Loch in der Glasscheibe und hält sie mir wartend entgegen.
»Aber ich habe –«
Bevor ich auch nur noch ein weiteres Wort sagen kann, zieht mich Toulouse so heftig an meinem Ärmel von der Glasscheibe weg, dass mir das Jackett bis in die Armbeuge rutscht und das rostfleckige Hemd darunter entblößt.
»Das geht in Ordnung, Jaques. Unser junger Freund hier gehört zu mir«, erklärt er, während er mich mit enormer Kraft am Sichtfenster vorbeizerrt und in den Vorhof das Varietés schubst.
Taumelnd finde ich mein Gleichgewicht wieder und fühle mich in diesem Moment so unglaublich verloren.
»Weißt du, wo Zidler steckt?«, fragt Toulouse im freundlichsten Plauderton. Jaques verzieht noch immer keine Miene.
»Gespräch mit Oller im Turm, kann nicht mehr lange dauern«, erfolgt die geschnarrte Antwort und mit einem abrupten Kopfrucken weist Jaques Toulouse ins Innere, jedoch nicht, ohne mich noch eines abschätzigen Blickes zu würdigen. Offensichtlich ist er alles andere als erfreut darüber, mich ticketlos durchzuwinken.
»Herrje, ich hatte ja ganz vergessen, dass man dich hier noch gar nicht kennt«, lacht Toulouse schallend sein sonores Lachen, als er sich bei mir unterhakt und mich gnadenlos weiter in den von vielen gespannten Lichterketten hell erleuchteten Innenhof schleift. Mein Arm fühlt sich an, als wäre er in einen Schraubstock gespannt.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das jetzt ein Vor- oder ein Nachteil ist«, entgegne ich atemlos, ich kann noch immer die bösen Blicke Jaques’ spüren, wie sie sich wie Pfeilspitzen in meinen Rücken bohren.
Der gartenähnliche Innenhof, der sich vor uns am Fuße eines kleinen Hügels erstreckt, quillt über vor Menschen, pulsiert und dröhnt vor Stimmengewirr. Und unweigerlich steuert Toulouse uns mitten hinein in den Tumult.
Viel zu viele Eindrücke prasseln in viel zu kurzer Zeit auf mich hernieder und schlagen wie eine mannshohe Welle über meinem Kopf zusammen. Gerade waren wir noch auf der schlecht beleuchteten, dreckigen Straße des Place Blanche . Doch nun wurden wir wie Gulliver in eine andere, fremde Welt hineingeworfen.
»Ich warne dich, Toulouse. Wehe, du lässt mich hier allein in diesem Chaos«, zische ich gepresst, im Slalom weiterhin Armen, Beinen, Kleidern, Hüten und Stöcken ausweichend.
Es ist unsäglich voll. Dicht an dicht gedrängt stehen Männer und Frauen vor einer kleinen, hölzernen Bühne, auf der eine Reihe von Mädchen in gefährlich durchsichtigen Tutus gerade etwas aufführen, das nur mit sehr viel Fantasie Ähnlichkeit mit Ballett aufweist. Und neben der Bühne ragt etwas Graues, Großes in den Himmel und mir fallen vor lauter Starren bald die Augen aus dem Kopf.
»Toulouse, dort drüben steht ein Elefant!«
Mein Gott, muss sich das dumm anhören!
Doch dort steht unzweifelhaft ein lebendiger Elefant. Riesig, grau und ungemein faltig.
Toulouse zu meiner Linken wendet jedoch noch nicht einmal den Kopf zu der Monstrosität, nur ein schiefes Lächeln verzieht seinen Mund.
»Der ist nicht echt«, spricht er es in den allgegenwärtigen Trubel hinein, sodass seine Worte mich nur undeutlich erreichen.
»Nichts weiter als Tonnen und Tonnen von Stuck. Überbleibsel der Weltausstellung von vor zwei Jahren.«
Er verdreht die Augen.
»Noch etwas, das uns neben diesem scheußlichen Stahlskelett am Champ de Mars dauerhaft von der Ausstellung geblieben ist. Keine Ahnung, für welches Land er ursprünglich hergestellt wurde, aber hinterher wusste keiner mehr, wohin mit dem Ding, da hat Zidler ihn für ’nen Apfel und ’n Ei gekauft.«
Mit einer von Gewohnheit zeugenden Gewandtheit bahnt sich Toulouse weiter mit mir im Schlepptau seinen Weg durch die Massen, als habe er eine imaginäre Landkarte vor Augen, denn er kann in diesem Wald aus schwarzgewandeten Rücken und Beinen unmöglich sehen, wohin er läuft.
»Ich wusste gar nicht, wie schnell man dich mit großen Dingen beeindrucken kann, Noël«, setzt er mit spöttischer Stimme nach und ich höre abrupt damit auf, mir nach dem Stuckungetüm den Hals zu verrenken.
»Du kannst da auch reingehen. In den Elefanten, meine ich, wenn – Jesus Christus, wenn du es schaffst, an diesen Nilpferden vorbeizukommen, Herrgott noch mal! Machen Sie sich doch noch ein wenig breiter, Madame, dann braucht Ihr Hinterteil bald sein eigenes Arrondissement!«, giftet der Gnom, als er einen haarscharfen Haken um eine Gruppe sich unterhaltener, älterer Damen schlägt, deren Brüste aus den viel zu engen Rüschenkleidern quellen und deren überaus breite Hinterteile definitiv keiner ausladender Tournüre mehr bedurft hätten. Da sie Toulouse wegen seiner Größe einfach übersehen, werfen sie mir zuerst irritierte, dann mörderische Blicke zu.
Eilig haste ich meinem Begleiter hinterher, mit Wangen so rot, dass sie den Mühlenflügeln Konkurrenz machen könnten.
Toulouse schlägt einen weiteren Bogen, diesmal um zwei Männer in feinen, gebügelten Anzügen und stocksteifen Zylindern.
Auch wenn er dies niemals zugeben würde, so muss es ihn doch wahrlich nerven, dass er sich mit mir Bremsklotz am Bein nicht so schnell fortbewegen kann, wie es ihm lieb wäre. Unter gepresstem Schnaufen zerrt er mich an der Bühne vorbei und bleibt letztlich einige Meter vor der Schlange zum Innenraum des Varietés stehen. Mit verkniffenem Gesicht hält er sich die Seite.
»Meine Güte, das wird auch jedes Mal voller in dem Schuppen«, nuschelt er gepresst im Versuch, die Seitenstiche wegzuatmen.
Ich nicke geistesabwesend. All diese ungewohnten Eindrücke schwappen mit einer brachialen Intensität auf mich hernieder, dass mir der Kopf schwirrt.
Wo zur Hölle bin ich hier nur hineingeraten?
Die bunten Lichter flimmern und flirren vor meinen Augen wie aufgeschreckte Glühwürmchen, sie tanzen mal hierhin, mal dorthin.
»Ich denke, einen Sitzplatz können wir getrost vergessen«, sinniert Toulouse neben mir leise vor sich hin, auch wenn er unmöglich mehr sehen kann als die Rücken seiner Vordermänner.
Die Schlange macht nur schleppend Fortschritte. Quälend langsam presst sich Mensch nach Mensch in den schon hoffnungslos überfüllten, schummrigen Innenraum. Ein Meer aus dunklen Hüten. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge hinwegzuschauen. Ein großer, bärtiger Mann kommt hakenschlagend auf uns zu.
»Toulouse, alter Pinselschwinger!«
Es durchfährt mich wie ein Stromschlag, dieses donnernde Rufen nach meinem Freund, welches selbst das Lärmen der Masse problemlos übertönt.
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