»Noch immer nichts, mh?«
Seine Hand schlägt einige Male bestätigend gegen den unteren Teil der Leinwand. Er zieht die Augenbrauen hoch, sodass sie sich wie dunkle Halbmonde über den Rand seiner Brille spannen. Ich zucke nur entschuldigend mit den Schultern und weiche seinem fragenden Blick aus.
Mitleid und ein diffuser Vorwurf spiegeln sich in ihm wider.
»Was hast du da eigentlich noch mitgebracht? Dieser Schwung an Papierkram?«, wechsle ich hastig das Thema, und ohne mein Zutun vollführen meine Arme eine viel zu ausladende Geste zu dem Stapel an Blättern auf dem Tisch. Toulouse zuckt müde mit den Achseln.
»Skizzen, Ideen, Impressionen. Wie auch immer du es nennen willst. Ich dachte mir, ich bringe dir mal ein wenig Leben in deine bescheidene Hütte.«
»Du hast ausgemistet und dachtest dir, dass du bei mir deinen Müll abladen kannst«, entgegne ich spitz und um einiges schnippischer, als beabsichtigt. Das Resultat ist, dass sich die buschigen Brauen verärgert zusammenziehen.
»Ganz im Gegenteil, mein junger Freund. Ich habe mit viel Bedacht ausgewählt«, entgegnet er knapp und mit einer gewissen Kühle. Er geht zum Tisch und wirft mir anschließend einen Stapel an fein ausgearbeiteten Skizzen der Basilika Sacré-Cœur in den Schoß.
»Ich hätte dir auch Zeichnungen von wunderschönen, nackten Frauen mitbringen können, aber ich dachte mir, das hier passt besser zu dir.«
Ich bekomme nichts weiter als ein kurzes Nicken zustande, während ich in einem schnellen Abmessen die Skizzen durchblättere, seinen Seitenhieb wohlweislich ignorierend. Meine Güte, wie lange bin ich denn nicht mehr aus meinem Atelier herausgekommen?
»Bedank dich bei mir, indem du endlich was damit anfängst und aus deiner Apathie erwachst!«
Toulouse verdreht theatralisch die Augen, als ich ihn verständnislos anblicke.
»Meine Güte, Junge, mach’ was draus, mehr kann ich dir nicht raten. Während du hier im Innern hockst, Grünspan ansetzt und Trübsal bläst, zieht draußen das Leben an dir vorbei!«
Wie zur Bestätigung seiner Worte beginnt auf der Straße unter meinem Fenster just in diesem Moment ein Kind lauthals nach seiner Mutter zu schreien.
»Mir würde ebenso wenig einfallen, würde ich Tag um Tag nur die gleichen, abblätternden Tapeten anstarren.«
Sein Blick bleibt kurz an der kreideweißen Leinwand hängen.
»Andererseits, warum abgelegte Inspirationen aus zweiter Hand aufwärmen, wenn du sie genauso gut erleben kannst?«
Er scheint dies mehr zu sich selbst als an mich gerichtet zu haben. Gedankenverloren dreht er die Bartspitzen zwischen seinen schwieligen Fingern, bis es ihn wie ein Blitz durchfährt und sich sein ganzer Körper aufrichtet.
»Und ich kenne zufällig genau den richtigen Ort für ein solches Unterfangen!«
»Der da wäre?«, echoe ich matt, mit dem flauen Gefühl im Magen, dass ich seine Antwort auf meine Frage bereits kenne und sie mir nicht gefallen wird.
»Das Moulin Rouge !«
»Ich weiß nicht.«
»Wie bitte, du weißt nicht? Was zur Hölle gibt es beim Moulin Rouge nicht zu wissen?«
Er springt mir beinah ins Gesicht bei diesen Worten.
»Und was willst du stattdessen machen, mh? Hier in deiner Abstellkammer versauern und die weiße Leinwand hypnotisieren, in der Hoffnung, dass sich dein nächstes Bild von selbst malt?«
Toulouse vollführt eine wegwischende Handbewegung, als wolle er alle im Raum schwebenden Einwände mit einem Schlag zerstreuen.
»Du musst rauskommen, mein junger Freund. Leben! Du bist hier inmitten von Leben, der lebendigsten Stadt der Welt. Und was machst du?«
Schweigend weiche ich seinem Blick aus und lasse mich immer tiefer in die Federn der Couch sinken. In der vagen Hoffnung, sie möge mich verschlucken.
»Diese Frage kann ich problemlos für dich beantworten, mein Lieber«, poltert er weiter, sich mit jedem Wort mehr in Rage redend. »Nichts tust du. Rein gar nichts!«
Das weiße Quadrat.
Es fröstelt mich. Nichts .
Deutlich hörbar ausatmend, versucht sich mein Freund zu sammeln. Unbeholfen geht er vor mir in die Hocke und ein wenig sanfter, jedoch nicht weniger vorwurfsvoll, fährt er fort:
»Noël, das kann so nicht weitergehen. Warum bist du überhaupt noch hier, wenn du gar nicht mehr hier sein willst?«
Seine dunklen Augen versuchen unentwegt Blickkontakt mit den meinen aufzunehmen, doch ich lasse das nicht zu.
Ich schüttle nur abwehrend den Kopf, den Blick unverwandt auf das weiße Nichts gerichtet, mit aller Macht die aufsteigenden Tränen unterdrückend.
Zwei warme Hände legen sich auf meine Knie, drücken sanft zu.
»Noël?«
»Ich weiß es nicht.« Mein Hals fühlt sich wund und kratzig an. »Ich weiß es einfach nicht.«
Toulouse nickt nur. Die Wärme weicht von meinen Knien, als er sich mit steifen Bewegungen aufrichtet und beginnt, lustlos das Zimmer zu durchmessen.
»Ich weiß zumindest eines. Du hockst hier und vergeudest deine Jugend und dein Talent. Und das ertrage ich nicht.«
Das gerollte Poster fest unter seinen Arm geklemmt, rückt er den leicht verbeulten Zylinder zurecht, ehe er sich zur Tür wendet.
»Wie du weißt, habe ich noch einen Termin mit der Druckerei«, gibt er im Gehen von sich und ich kann nicht in Worte fassen, wie erleichtert ich darüber bin.
»Viel Erfolg wünsche ich dir«, rufe ich ihm nach und schaue verdutzt hoch, als er noch einmal innehält.
»Den Erfolg wirst du sehen. Wie ich bereits sagte, heute Abend wirst du keine Straße um den Place Blanche mehr finden, in der mein Poster nicht hängen wird.«
Im Gehen winkt er mir noch kurz über die Schulter hinweg zu.
»Wir sehen uns heute Abend. Halb acht steht die Kalesche vor deiner Tür. Keine Widerrede! Und wenn ich dich persönlich aus diesem Haus schleifen muss!«
Zum Abschied schlägt er die Tür mit einer solchen Wucht ins Schloss, dass die maroden Schrauben der Türscharniere gefährlich wackeln.
Mit einem Mal kommt mir die Stille in meinem Atelier unerträglich vor.
Wie ein rotes Leuchtfeuer drehen sie sich in der Ferne und stechen mir so penetrant in die Augen, dass ich sie schnell zukneife. Mit spielerischer Leichtigkeit ziehen sie die Aufmerksamkeit aller, die sie auch nur für einen kurzen Moment erblicken, auf sich. Die überdimensionierten Flügel der berühmt-berüchtigten roten Mühle, deren grelle Farben die Besucher anlocken wie ein Irrlicht die Motten in der Dunkelheit, drehen sich wie von Geisterhand betrieben in einem stets gleichbleibenden, monotonen Rhythmus – Elektrizität. Ihr ist mit Sicherheit auch das warme und dennoch seltsam unwirkliche Licht der vielen kleinen Lämpchen geschuldet, die den Place Blanche an diesem angenehm kühlen Spätsommerabend erhellen.
Der Erfolg dieses Varietés ist in der Tat beeindruckend. Erst vor drei Jahren eröffnet, hat sich das Moulin Rouge in einer atemberaubenden Geschwindigkeit zu einem der Publikumsmagneten des Montmartre gemausert. Ein Anziehungspunkt für Männer und Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten – und mein werter Freund Toulouse stets mittendrin im Getümmel. Seinen Erzählungen zufolge tanzen und schunkeln hier Fabrikbesitzer und Gewerkschaftsführer mit einem seligen Lächeln auf den Lippen Seite an Seite und vornehme Adlige erheben die Gläser mit hoffnungslos abgebrannten Schöngeistern. In dieser Halbwelt des frivolen Nervenkitzels gibt es offensichtlich keinerlei Klassenunterschiede. Das ist auch der einzige Aspekt, in dem mir das Moulin Rouge nicht bis ins Mark suspekt ist. Ein jeder sei gleich dem anderen, haben sie doch allesamt ihren Franc für ein Ticket in eine farbenprächtige, für kurze Zeit die Realität übertünchende Traumlandschaft bezahlt.
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