So lauten die in den schillerndsten Farben ausgeschmückten Erzählungen, die man über diesen Ort in den Straßen des Montmartre zu hören bekommt, und ich glaube ihnen. Denn wenn einer wissen muss, wie es im Innern der roten Mühle wirklich zugeht, so ist es der kleine Mann neben mir, der sich gerade mit einem wohligen Murmeln tiefer in die zerschlissenen Ledersitze der Kalesche drückt. Seit der Eröffnung ist Toulouse beinah jeden Abend im Moulin Rouge anzutreffen, unter dem mehr als fadenscheinigen Vorwand, neue Motive für seine Bilder finden zu wollen.
Wirklich mehr als fadenscheinig, denn nicht erst seitdem ich von Louise weiß, beschleicht mich der Verdacht, dass es ihm bei seiner Begeisterung für dieses Varieté längst nicht mehr nur um die Ausübung seiner Kunst geht. Sollte es ihm jemals darum gegangen sein.
Ich werfe meinem Freund einen verstohlenen Blick zu. Es beschleicht mich die Frage, ob seine Chancen bei Louise wirklich so gut stehen, wie er es sich wünscht.
Mit Wohlwollen und auf hohen Absätzen reicht Toulouse an die 1,50 Meter, wodurch er stets etwas Verhutzeltes, Zwergenhaftes an sich hat. Er ist noch jung, noch keine dreißig, doch lassen ihn der wallende Bart und seine verschrobene Art bedeutend älter wirken.
»Ich bin dir übrigens immer noch böse, dass du mich allen Ernstes in dieses Tollhaus schleifst.«
Ich blicke nach vorne, hinaus auf die schnell vorbeiziehende Straße, doch erkenne ich aus dem Augenwinkel, wie sich ein selbstzufriedenes Lächeln auf den Lippen meines Freundes formt, ehe er antwortet:
»Manche Menschen muss man eben zu ihrem Glück zwingen, mein junger Freund. Finde dich damit ab. Du hast einen Tapetenwechsel bitter nötig.«
»Und manche Menschen vertrauen zu sehr darauf, dass man ihnen all ihre Faxen verzeiht.«
»Natürlich. Und eigentlich hast du mir auch schon längst verziehen.«
Auch wenn ich es nicht sehe, so weiß ich, dass sich seine Augenbrauen wieder fragend über die Brillenränder spannen. Und das Schlimmste ist, dass er recht hat. Eigentlich bin ich ihm längst nicht mehr böse. Die Wut ist bereits im Laufe des Tages abgeflaut und hat einem wesentlich ekligeren Gefühl Platz gemacht. Seit Stunden fühle ich mich fürchterlich aufgekratzt und auf kindliche Weise nervös, dass es mir den Magen zusammenkrampft und ich meine Hände nicht mehr stillhalten kann. Daran ändert auch nichts, dass sich die Anzahl der von Toulouse gemalten Plakate, die schemenhaft an uns vorbeijagen, innerhalb der letzten Minuten vervielfacht hat. Wie von meinem Freund angepriesen, hängen sie in diversen Ausführungen an allen Wänden und an jeder Litfaßsäule.
Wir kommen näher. Die roten Flügel werden größer.
Bedrohlicher.
Das schnelle, gleichmäßige Klappern der Hufe auf unebenem Kopfsteinpflaster und das Rattern der Räder gleicht einem beruhigenden, beständig gleichbleibenden Stakkato, dessen Abstände kürzer werden, als die Kalesche auf den Boulevard de Clichy einbiegt und auf Schritttempo abbremst.
»Da sind wir ja endlich!«, frohlockt Toulouse und klatscht die Hände ineinander. Ich wünschte aufrichtig, ich könnte seine Freude teilen. Meine Hände verkrampfen sich unwillkürlich in meinem Schoß, taube Finger krallen sich ineinander.
Mühsam richtet sich Toulouse in den von viel zu vielen Fahrgästen durchgesessenen Polstern auf und lehnt sich bereits halb aus dem Innern des Wagens, selbst als dieser noch nicht ganz steht. Er kann es kaum mehr erwarten auszusteigen. Mit versierten Handgriffen richtet er sich den schiefsitzenden Zylinder und wirft sich in Positur. Die Pferde halten mit leisem Schnauben einige Meter vom Eingang des Varietés entfernt hinter einer langen Schlange von weiteren Kutschen und Droschken.
Und wie ich es mir nicht anders in meinen schlimmsten Albträumen hätte ausmalen können, scheint allgemeine Hektik und turbulente Aufregung diesen Ort fest im Griff zu haben. Sobald die Dämmerung einsetzt, kommen die Menschen von überall her wie Nachtfalter aus ihren Verstecken eingetrudelt. Im flackernden Licht der Gaslaternen vor dem Moulin Rouge schimmern die bunten Kleider der Frauen wie die Flügel eines Schmetterlings und das warme Licht bricht sich in den glänzenden Zylindern ihrer Begleiter.
Die metallene Trittleiter mit zwei für ihn sehr großen, federnden Schritten hinabspringend, richtet Toulouse sein etwas zerknittertes, schwarzes Cape, ehe er abwartend und mit einer nicht zu übersehenden Ungeduld zu mir heraufblickt.
»Heute noch, Monsieur. Die Damen warten nicht!«
Sein kleiner Fuß trippelt bei diesen Worten ungeduldig auf das Kopfsteinpflaster.
Eilig versuche ich, meine doch wesentlich längeren Beine aus dem engen Innern des Wagens zu befreien und als es mir schließlich gelingt, hat sich mein Begleiter bereits auf dem Absatz umgedreht und tapert schnellen Schrittes das Trottoir hinab, seinen Spazierstock dabei lässig in der linken Hand hin und her schwingend wie ein Dandy.
Ich folge ihm kopfschüttelnd.
Meine Güte, Toulouse hat wirklich nicht übertrieben, als er sagte, es würde um das Moulin Rouge keine Straße mehr ohne sein Plakat geben. Louise strahlt mir in zigfacher Ausführung von allen Seiten entgegen, das Rot der Schrift leuchtet warm, der Druck ist erstaunlich gut geworden. Das haben sich Oller und Zidler einiges kosten lassen.
»So, mein lieber Freund, da wären wir«, verkündet Toulouse lautstark und vollführt eine ausladende Geste, als wir vor der Front des Moulin Rouge direkt unter der sich leise surrend, fortwährend drehenden Mühle zum Stehen kommen.
»Was du nicht sagst, Toulouse«, murmle ich abwesend und bin gänzlich fasziniert von den sich direkt über meinem Kopf drehenden bunten Lichtern. Bewundernd lege ich meinen Kopf in den Nacken, dass mir beinah der Zylinder vom Kopf fällt. Wie fast alles an meiner Ausstattung ist auch er eine Leihgabe eines von Toulouses zahlreichen Freunden. Wir haben nur leider nicht dieselbe Größe, weder was Zylinder noch Jacketts anbelangt, woran mich der immer wieder von meinen Schultern rutschende Stoff stets aufs Neue erinnert.
Ohne mein Zutun schleichen sich mir die Bilder eines ausstaffierten Pudels in den Sinn, die ich jedoch sofort energisch abzuschütteln versuche. Ziellos schweift mein Blick umher. Wandert von den kleinen Lämpchen auf den Flügeln hinüber zum Dach und wieder zurück. Ich wende mich zur Seite, um besser an meinem Jackett herumwerkeln zu können, als ich den eindrucksvollen, mittelalterlich anmutenden Turm zur Linken des Varietés bemerke.
»Was ist das für ein Turm?«
»Das ist der gotische Turm. Dort kannst du zu Abend essen, wenn du willst«, entgegnet Toulouse trocken. Für ihn ist am Äußeren des Moulin Rouge absolut nichts mehr neu oder interessant. Er hat bereits damit begonnen, sich an der langen Schlange der Wartenden vorbeizudrängeln, und bedeutet mir mit hektischen Handbewegungen ihm zu folgen. Er schwingt seinen auf Hochglanz polierten Gehstock dabei so wild hin und her, dass es einem der Herren neben ihm beinah den Zylinder vom Kopf schlägt. Den finsteren Blick, den sich Toulouse dafür einfängt, registriert er nicht.
Ich werfe noch einen letzten Blick auf den erkerhaften Vorbau, der sich wie die Turmspitze einer Kathedrale in den langsam dunkler werdenden Himmel erhebt, und schon folge ich Toulouse widerwillig an der Warteschlange vorbei. Dieser Turm steht ganz im Gegensatz zum restlichen, gedrungenen Erscheinungsbild der roten Mühle. Sie ist viel zu grell, viel zu bunt.
Ein eiskalter Schauer jagt mir Gänsehaut über den Rücken und kriecht mir in alle Glieder. Das Gemurmel und die bösen Seitenblicke stoisch ignorierend, versuche ich mein Bestes, mich so schnell wie möglich an der wartenden Masse hinter Toulouse her zu schlängeln, der allein aufgrund seiner geringen Größe einen überwältigenden Vorteil hat.
Читать дальше