»Was soll denn das?« fragte Georg.
»Halten Sie den Mund«, erwiderte Stahmer.
Wir hätten uns sofort aus Formis’ Zimmer zurückziehen müssen, überlegte der Agent, um uns noch in der Nacht nach Deutschland durchzuschlagen. Das wäre zu schaffen gewesen.
In diesem Moment sah Stahmer den zugeschneiten Graben. Er trat so fest auf die Bremse, daß der schwere Wagen quer stand, stieg aus, betrachtete das Gelände, nickte, ging auf den Kofferraum zu, holte einen Spaten heraus, gab dem verdrossen aussteigenden Georg ein Zeichen.
»Los«, sagte er, »ausschaufeln!«
»Wozu?«
Ein Blick Stahmers genügte. Der Komplize duckte sich. Dann schaufelte Georg so besessen, als ob er Stahmer mit dem Blatt erschlagen wollte. Er wollte keuchend aufhören. Aber der Agent trieb ihn an. Schließlich nahm er selbst die Schaufel. Die Wunde an der Hand brach wieder auf. Der Agent biß die Zähne aufeinander. Es ging langsam. Viel zu langsam. Georg begriff noch immer nicht. Er glotzte stumpfsinnig in den Graben. Nach einer halben Stunde war er freigelegt.
Stahmer ging an den Wagen, stieß zurück, rollte langsam im ersten Gang auf die Stelle zu, ließ ihn allmählich hineingleiten. Der Wagen fiel um. Der Agent rappelte sich keuchend heraus. Der angeschlagene Kopf brummte.
»Zuschaufeln«, sagte er lakonisch.
Um dreiundzwanzig Uhr waren sie fertig. Stahmer betrachtete noch einmal die Stelle. Es sah aus, als ob der Graben eine Beule hätte, die der Schnee mit einem Zuckerguß überzogen hatte. Wenn wir Glück haben, dachte er, dauert es zwei, drei Tage, bis sie die Limousine entdecken.
Er stieß Georg in die Rippen. Fortsetzung der Flucht. Zu Fuß. Nebeneinander. Schweigend. Zwei, die sich nicht mochten und aufeinander angewiesen waren, die von einem Land unter den Augen der Welt gejagt wurden.
Auf dem Marsch durch die Nacht, die heute zwölf Grad Kälte hatte …
Die schnellen, harten Schritte, die um dreiundzwanzig Uhr zehn über den Gang des Hauses in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin wuchteten, kannte jeder. Jeder zog den Kopf ein, als spürte er den Pistolenlauf im Nacken. Jeder atmete erleichtert auf, wenn die Stiefel weiterhetzten. In vielen Zimmern brannte noch Licht. Die Zentrale des SD und der Gestapo kannte keine Bürozeit. Die unheimliche Maschine rotierte Tag und Nacht, vom Teufel betrieben, mit Blut geölt.
Gruppenführer Heydrich riß die Türe zu seinem Büro auf. Der Adjutant im Vorzimmer stand stramm, folgte ihm.
»Was Neues von Stahmer?« fragte der Chef noch im Gehen.
»Nein … das heißt …«
»Ja oder nein?« unterbrach ihn Heydrich kalt.
Seine Stimme paßte zu seinem Gesicht. Das Gesicht zu seinen Augen. Die Augen zu seinen Händen. Das war der Mann, der über Deutschland hing wie ein blutiger Schatten. Ein Genie des Verbrechens. Eine Bestie an Intelligenz. Einer, der von seinem Haß lebte und ihn mit Schicksalen fütterte. Nur wer so brennend haßte, konnte so ruhig morden. Nur wer den Menschen so verachtete, konnte so unmenschlich sein. Seine Religion war die Vernichtung. Sein Gebet der Fußtritt. Sein Gehirn rationalisiert nach der Formel: Mord macht Macht …
»Wir haben die heutige Sendung auf Wachsplatte aufgenommen«, erwiderte der Adjutant.
»Vorspielen!«
Die Apparatur war schon aufgebaut. Heydrich stand reglos. Die Nadel kratzte über die letzten Worte eines Menschen.
»Wenn meine Stimme abbricht«, sagte der Lautsprecher, »werde ich ermordet …«
Ein fahles Lächeln zog über Heydrichs Gesicht, als nach drei, vier Schüssen die Platte schwieg.
»Lassen Sie die deutschen Grenzübergänge zu den Tschechen verstärken.«
»Jawohl, Gruppenführer.«
»Wir werden Formis nicht lebend bekommen«, sagte Heydrich kühl, »die haben ihn umgelegt … so werden meine Befehle ausgeführt … Schweinerei! … Stahmer hat sich sofort bei mir zu melden … auch in der Nacht.« Er ging ein paar Schritte hin und her. »Bereiten Sie das Propaganda-Ministerium auf diese Geschichte vor … Die sollen sich was einfallen lassen … Wir haben mit der Sache nichts zu tun.«
Der Adjutant stand stramm, als Heydrich den Raum verließ. Erst Sekunden später wirkte er erleichtert.
Der Personenzug fuhr auf die Minute pünktlich in den Prager Hauptbahnhof ein. Er war nur mäßig besetzt. Eine junge, blonde Frau lief mechanisch hinter den späten Passanten her. Die Lokomotive blies den Dampf aus dem Schlot, wie erleichtert, am Ziel zu sein. Dreiundzwanzig Uhr dreißig. Feierabend für heute …
Nicht für Ira Puch. Sie ging wie gezogen. Sie sah an der Sperre uniformierte Polizisten, die sie aufmerksam betrachteten, aber wortlos durchließen. Sie lief weiter. Ihre Hände griffen ins Leere. Sie hatte das Gepäck im Hotel über der Moldau zurückgelassen.
Nicht die Angst. Was war aus Formis geworden? Vielleicht lebte er noch. Vielleicht war er nur verwundet? Wie Stahmer … Sie zuckte zusammen. Ich bin Stahmer in den Rücken gefallen, als ich den Mann mit dem Gelehrtenkopf warnte.
Daß sie damit vermutlich ihr eigenes Todesurteil gesprochen hatte, begriff sie nur zur Hälfte …
Die kalte Schneeluft trieb sie in das Bahnhofsgebäude zurück. Sie stand hilflos vor der Stadtkarte. Hotel? Sie wagte es nicht. Der Wartesaal dritter Klasse hatte die ganze Nacht auf. Sie bestellte Kaffee. Die Luft war schlecht. Ein paar betrunkene Burschen randalierten in der Ecke. Ein Kellner schimpfte mit ihnen herum. Der Uhrzeiger drehte sich so langsam, als klebte Sirup am Zifferblatt. Diese Nacht bestand für Ira nicht aus verschlafenen Atemzügen, sondern aus trägen Sekunden. Jede von ihnen stach wie eine Nadel in das Bewußtsein.
Sie öffnete das Kuvert, betrachtete zum erstenmal den Paß. Er war auf ihren richtigen Namen ausgestellt. Geld. Die Flugkarte. Sie stand auf, suchte und fand Friseur und Waschgelegenheit. Obwohl sie noch keine Erfahrung mit dem Gewerbe hatte, bei dessen erstem Auftrag sie gescheitert war, dachte sie auf einmal klar. Sie kaufte eine Reisetasche und ein paar Utensilien, nahm ein Taxi und fuhr zum Flugplatz.
Sie kam eine Stunde zu früh. Es war der erste Flug ihres Lebens, und das lenkte sie ab. Sie erledigte die Formalitäten. Längst wurde der Flugplatz überwacht. Es war eine Kontrolle erster Klasse, lautlos und unsichtbar. Ira wurde in einen Raum gebeten. Ein Polizeikommissar in Zivil stellte sich höflich vor. Er sprach fließend Deutsch. »Frau Puch?« begann er.
»Fräulein«, verbesserte sie.
»Entschuldigung«, antwortete der Beamte. Er lächelte mechanisch. »Sie reisen nach Berlin?«
»Ja.«
»Hat es Ihnen bei uns gefallen?«
»Oh, sehr gut …«
»Was haben Sie gemacht?«
»Ferien.«
»Allein?«
»Ja.«
»Warum?«
»Aber ich bitte Sie …«, entgegnete die junge Frau.
Eine müde Gleichgültigkeit kam über sie. Der Beamte beobachtete sie sorgfältig. Die Beschreibung, die er von der Komplizin hatte, war sehr allgemein. So traf sie auch auf Ira nur flüchtig zu. Der Kommissar mußte sich auf sein Gefühl verlassen.
Nein, dachte er, diese junge Frau ist abgespannt, sie hat Kummer, irgendeine Sache mit einem Mann wahrscheinlich. So gleichgültig, so uninteressiert kann bei einer Kontrolle die gerissenste Agentin nicht sein.
Der Kommissar kannte den Arbeitsplatz, die Adresse in Berlin. Ein Fernschreiben war unterwegs zur deutschen Kriminalpolizei, die zu dieser Zeit noch nicht viel mit Heydrich zu tun hatte. Personenüberprüfung nannte man das. Berlin bestätigte Iras Angaben. Der Kommissar glättete das Fernschreiben. Er stand auf. »Tut mir leid, daß ich Sie belästigen mußte … guten Flug.«
Erst als sich Ira in der Maschine anschnallte, wußte sie, welcher Gefahr sie entkommen war. Dann nahm ihr das Abenteuer des ersten Fluges die Gedanken ab.
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