»Meinem Mann ist nicht wohl«, sagte sie hastig. »Er hat sich oben hingelegt.«
»Oh«, erwiderte Formis mit einer verlegenen Geste. Er kam langsam näher. Er setzte sich an den Tisch, als sei er noch nicht ganz schlüssig.
Ich muß ihn aufhalten, dachte die junge Frau verzweifelt. Ich muß … Warum eigentlich? Auf einmal hatte Ira die Empfindung, als müßte sie nicht oben für die Männer Zeit gewinnen, sondern für sich selbst.
»Was macht die australische Schachpartie?« fragte sie.
Formis gab sich einen Ruck. Er betrachtete Ira ein bißchen amüsiert. Er verstand das. Vielleicht hatte das junge Glück einen kleinen Streit. »Die Partie wird über kurz oder lang Remis gehen«, antwortete er, immer noch lächelnd.
»Unentschieden«, wiederholte Ira, während sie sich an ihrer zitternden Kaffeetasse verschluckte.
»Das ist das Beste, was man von einer Partie sagen kann«, meinte Formis melancholisch.
»Ja«, versetzte die junge Frau. Sie sah auf die Armbanduhr. Neunzehn Uhr siebenundzwanzig. Mein Gott, eine halbe Stunde noch.
Kurz darauf schlug die Wanduhr rasselnd, gellend. Ein einziger Schlag. Neunzehn Uhr dreißig. Die Sperrzeit hatte begonnen …
Formis winkte der Kellnerin, bestellte etwas zu essen. Plötzlich tippte er sich an die Stirn, als ob ihm etwas eingefallen wäre.
Er stand auf. Vielleicht nur, um einen Satz an seinem heutigen Kommentar zu ändern.
Ira schwankte leicht. »Herr Formis …«, sagte sie leise.
Er betrachtete sie überrascht. Sie lächelte gequält. Seine freundlichen Augen wurden besorgt.
»Haben Sie etwas?« fragte er besorgt. Automatisch streckte er die Hand über den Tisch, legte sie auf ihren Arm.
Sie fühlte die Wärme dieser Hand, ihr Leben, ihren Druck. Ihre Augen wurden schwer und feucht. Der Druck verstärkte sich.
»Kann ich Ihnen … irgendwie helfen?« fragte Formis ruhig.
Er sah verstohlen auf die Uhr. Noch siebenundzwanzig Minuten bis acht. Er gab es auf, nach oben zu wollen. Er setzte sich wieder. Die junge Frau schloß einen Moment die Augen. Ich müßte helfen, denkt sie, ich ihm, nicht er mir! Seine warme Stimme, seine freundlichen Worte schnitten wie Messer in die Haut.
Neunzehn Uhr vierundvierzig zeigte Werner Stahmers Uhr, als er die Tür des Senderaumes hinter sich schloß und den Komplizen hinaustrieb. Dann glitt der Schlüssel lautlos aus dem Schloß. Georg lehnte am Treppengeländer. Stahmer faßte ihn am Arm und zog ihn nach unten.
Sie erreichten den ersten Stock, das Zimmer.
»Das Ding sitzt«, sagte Georg, »und geht genau um einundzwanzig Uhr hoch … verdammt knapp«, setzte er brummend hinzu.
»Ruhe jetzt!« zischte Stahmer ihn an, »kein Wort mehr … bis er kommt …« Und dann sprach er selbst den nächsten Satz: »Kann Formis die Höllenmaschine irgendwie entdecken?« fragte er.
Der Komplize lächelte verächtlich. »Gelernt ist gelernt.«
Er wußte, wie man eine Sprengvorrichtung so tarnt, daß man leichter eine Nadel in einer Bodenritze fände. Das Uhrwerk tickte.
Das Zimmer roch nach Iras Parfüm.
»Das Mädchen scheint tüchtig zu sein«, lenkte Georg ein. Er machte ein Gesicht dabei, für das man einen eigenen Waffenschein brauchte.
»Ruhe!« fluchte Stahmer.
Zigaretten glühten wie Leuchtkäfer.
Stahmer stand an der Tür und horchte. Bis jetzt hatte alles geklappt. Und so mußte es weitergehen, dann merkte niemand hier, wie er einen Mann aus dem Hause stahl.
Neunzehn Uhr fünfundvierzig. Die dunkle Wanduhr hatte die Viertelstunde angezeigt. Ihr schwerer Messingpendel zerhackte die Zeit. Links, rechts, links, rechts, rhythmisch, exakt, monoton, stumpfsinnig. Der Zeiger wanderte. Über Sekunden, Minuten und Stunden. Er fragte nicht danach, ob er die ersten Herzschläge eines Kindes oder die letzten Atemzüge eines Greises verkündete. Uhren fragen nicht nach Zeit. Sie zeigen sie nur an.
Rudolf Formis betrachtete das runde Zifferblatt. Er verglich mechanisch mit seiner Armbanduhr. Stimmte. Seine Stunde schlug um zwanzig Uhr. In fünfzehn Minuten. Wie jeden Abend. Heute abend zum letztenmal?
Er redete der jungen Frau an seinem Tisch zu. Mehr konnte er nicht tun. Er spürte, daß etwas nicht stimmte. Er brachte es richtig mit Werner Stahmer zusammen. Aber da brach seine Überlegung ab. Sein Leben wollte es, daß er jedem mißtraute, der aus Deutschland kam.
Aber der Hotelier, nicht er, hatte die Kriminalpolizei alarmiert. Formis erfuhr das Ergebnis der Überprüfung. Die beiden jungen Menschen waren einwandfrei. Wenn das schon die Polizei feststellte, hatte der Emigrant, der weit mehr ein Gelehrter war als ein Polizist, erst recht keinen Grund, vor dem Ehepaar Stahmer auf der Hut zu sein.
Er gab sich noch fünf Minuten. Wenn Ira wegsah, betrachtete er sie. Sie schleppt etwas mit sich herum, stellte er mechanisch fest. Sie möchte mir etwas sagen. Aber ich muß warten. Seine feinnervigen Hände glätteten die Zeitung. Er zündete sich eine letzte Zigarette an. Er blies den Rauch aus. Er war ein sensibler Mann mit einem ausgeprägten Gefühl für Stimmungen. Er spürte die Unruhe, die im Haus knisterte. Aber die ständige Gefahr, in der er lebte, hatte ihn abgehärtet.
Gleich steht er auf, dachte Ira … und dann …
Rudolf Formis drückte die angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Ich habe etwas zu erledigen«, sagte er, »ich muß Sie eine Weile allein lassen …« Er sah betroffen die bettelnden Augen der jungen Frau.
»Bitte«, sagte sie, »bleiben Sie, bitte … bitte …«
»Es geht nicht«, erwiderte er härter, als er wollte.
Er stand auf, zögerte eine Sekunde.
Ira beugte sich über den Tisch. »Ich muß Ihnen etwas sagen …«, raunte sie hastig. »Ich bin nicht mit Stahmer verheiratet.«
Formis schüttelte verwirrt den Kopf. Dann kam Leben in seine guten Augen. Ach so, dachte er, das bedrückt sie. Er lächelte warm und taktvoll.
»Hören Sie«, sagte Ira, »er ist … hören Sie doch …«, setzte sie ein zweites Mal an, als sie merkte, daß Formis lächelnd weitergehen wollte, »er ist … ein Agent … aus Deutschland …«
Formis stand wie angeschraubt. Jetzt begriff er alles. Zuerst war er erschrocken. Dann müde. Dann enttäuscht. Zuletzt wußte er, was es für diese junge Frau bedeutete, ihn zu warnen. »Bleiben Sie hier«, sagte er. Eine Sekunde streichelten sie seine Augen. »Danke«, setzte er leise hinzu.
Dann handelte er. Er trat an den Hotelier heran, zog ihn auf die Seite, sprach ein paar Sätze in schnellem, zischendem Tschechisch.
»Wie lange dauert es, bis die Polizei hier ist?« fragte er.
»Normalerweise zehn Minuten … Ist was los?«
»Alarmieren Sie sofort die nächste Station!« Formis machte eine vage Bewegung mit der Schulter. »Ich habe das Empfinden, daß heute auf mich … ein Anschlag verübt wird …«
»Von wem?« fragte der Wirt.
»Telefonieren Sie«, antwortete Formis fest.
Der Hotelier ging an den Wandapparat und rief die Ortschaft Zahorski an. Dann drehte er sich um und sagte zu Formis: »Bleiben Sie hier!«
»Nein«, erwiderte der Mann ruhig.
Zehn Minuten, überlegte er. Ich werde nicht feige sein. Mein Leben war immer ein Kampf. Daß dieser Kampf jetzt auf eine andere Ebene geschoben wird, ist nicht meine Schuld. Aber ich werde nicht ausweichen. Ich werde diese sechshundert Sekunden durchstehen …
Er langte in die Tasche. Die Pistole war geladen, gespannt und entsichert. Sein Oberkörper straffte sich. In seinen Augen war ein harter Glanz. Gut, dachte er, komm nur, Werner Stahmer … ich werde dich empfangen.
Ira sah ihm mit entsetzten Augen nach. Warum blieb er bloß nicht hier? überlegte sie. Er weiß ja gar nicht, daß ihm zwei Männer auflauern. Sie wollte ihm nachstürzen, aber sie wagte es nicht. Die Angst nagelte sie auf den Stuhl, und dabei dachte sie noch nicht einmal an ihr eigenes Schicksal.
Читать дальше