Unten ging eine Tür auf. Wieder drangen Gesprächsfetzen nach oben. Stahmer zögerte. Der Komplize starrte zur Treppe. Ira verließ die Wirtsstube, aber das wußten die beiden nicht.
Die junge Frau hielt es nicht aus. Sie flüchtete aus der Nervenfolter in nervöse Panik. Nur der Wirt und sie achteten auf die Minuten. Der schweigsame Bauer in der Stube bestellte das dritte Glas Pilsener. Das ältere Ehepaar unterhielt sich über seine Kinder. Die Kellnerin setzte sich einen Augenblick und las die Zeitung. Die Köchin spülte Geschirr. Eine Tasse fiel zu Boden.
Jetzt waren sie da!
Rudolf Formis spürte es. Die Nerven des Emigranten hörten besser als seine Ohren. Er starrte auf die Tür. Sein gekrümmter Zeigefinger war am Abzug. Aber er blieb ruhig. Sonst kämpfte er auf einer anderen Ebene. Jetzt wunderte er sich, wie vertraut ihm auf einmal die Waffe war, wie mit dem Handballen verwachsen; wie kühl sein Kopf blieb; wie normal sein Puls schlug; wie ihn der Haß auf einmal stark machte; wie er sein Manuskript beiseite legte und frei sprach; wie er Worte fand, die der Stegreif redigierte …
Und Rudolf Formis wußte, daß Menschen in Deutschland, irgendwo, am Radiogerät aufhorchten, den Knopf weiter nach rechts drehten, instinktiv spürten, daß hier, irgendwo in der Ferne, im Untergrund, verfemt und verfolgt, einer über sich hinauswuchs, sich erhob, anklagte …
»Wenn meine Stimme abbricht …«, sagte der Emigrant laut und deutlich, »werde ich ermordet … Vielleicht ist mein Mörder schon unterwegs … Vielleicht schleicht er in dieser Sekunde über den Gang … vielleicht geht gleich die Türe auf … Menschen kann man liquidieren, aber das Gewissen nicht umbringen … Ich werde erst schweigen, wenn ich tot bin …«
Während Rudolf Formis diese Worte mit tödlichem Ernst in das Mikrophon sprach, ging lautlos und unheimlich die Tür wie von selbst auf. Der Spalt verbreiterte sich. Zentimeter um Zentimeter. Aus dem Rahmen wuchs ein Schatten. Eine Gestalt. Ein Mann: Werner Stahmer.
Der Agent setzte zum Sprung an.
In diesem Augenblick drückte Formis ab. Sein Schuß zerfetzte die Stille. Das dicke Mauerwerk warf den Schall zurück.
Dreimal. Viermal …
Zwanzig Uhr drei. Der Fahrer des Polizeiautos hatte das Tempo beschleunigt. Die Reifen rotierten in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Eisdecke. Die Scheinwerfer stachen milchig in die Nacht. Der Motor brummte verdrossen. Die Kälte machte den Atem sichtbar. Die vier Männer hauchten trübe Wölkchen in die Luft. Sie hörten den leidenschaftlichen Aufruf aus dem Äther. Während ihre Körper froren, schwitzten ihre Hände, lief über ihren Rücken die Gänsehaut.
An der Kreuzung kam ihnen ein Lastwagen entgegen. Die Polizeilimousine mußte hart nach rechts ausweichen. Der Wagen drehte sich wie ein Karussell. Der Fahrer fing ihn ab. Ein Knall prasselte aus dem Lautsprecher. Noch einer. Wieder einer …
Auf einmal blieb es still. Der Äther schwieg. Der Kommissar fluchte. »Los!« zischte er den Fahrer an, »schneller!«
Ein Kilometer noch. Zu spät?
Es durfte nicht sein!
Was war geschehen? fragten sich die Beamten schweigend. Wer wurde getroffen? Wer hob zuerst die Waffe? Wer traf?
Die Antwort brauchte noch drei Minuten Zeit.
In den ersten Sekunden hatte Werner Stahmer die Empfindung, daß die Hand, die sich gegen sein Opfer hob, mit der Peitsche niedergeschlagen wurde. Er hatte instinktiv erfaßt, daß Formis gewarnt worden war, er warf sich zur Seite. Hinter ihm knallte es. Zweimal. Dreimal. Georg hatte nicht gezögert. Schießen, das war nach seinem Geschmack. Treffen, das hatte er gelernt. Beim Röhm-Putsch zum Beispiel.
Formis fiel mit schwerem Aufschlag zu Boden. Stahmer fuhr aus der Deckung hoch.
»Idiot!« fluchte er.
Dann reagierte er schnell, stieß dem Mörder in die Rippen, flitzte über den Gang, nahm die Stufen satzweise. Georg hinter ihm, die rauchende Pistole in der Hand.
Erdgeschoß. Ein Mann stand im Flur. Der Wirt, mit aufgerissenen, entsetzten Augen. Neben ihm, an die Wand gelehnt, blaß, zitternd vor Angst, Ira.
»Komm!« rief ihr Stahmer zu.
Die junge Frau zögerte.
Georg drosch mit dem Pistolenknauf den Hotelier zusammen. Dreimal, viermal. Die Kellnerin kam schreiend aus der Tür. Der Mörder richtete sich gemächlich auf. Sein Fußtritt wuchtete lässig. Er traf das Mädchen in den Leib. Wie gehabt. Wie gelernt.
Stahmer riß die willenlose Ira an der Hand nach draußen. Georg folgte.
Bange Sekunden. Die Batterie orgelte leer. Motor lief. Endlich. Langsam rollte der Wagen über die ausgeschaufelte Fläche vor dem Haus, erreichte die Straße. Stahmer müßte nach links einbiegen. Er fuhr rechts. Instinkt. Nichts weiter. Nach ein paar hundert Metern schaltete der Agent das Licht ein. Kein Verkehr auf der Straße. Die Tachometernadel zitterte bei neunzig.
Stahmer preßte die schmalen Lippen aufeinander. Sie waren blutleer. Blut klebte am Steuerrad. Formis hatte die Hand des Agenten getroffen. Jetzt biß der Schmerz. Keine Zeit zum Verbinden. Vorwärts! Weiter! Gleich müßten sie kommen, die Verfolger Gleich belebte sich die Nacht, wimmelte vor Gefahr und Polizisten.
Alles schiefgegangen, überlegte Stahmer bitter. Der Skandal! Wenn das der Gruppenführer erfährt! Wenn sie uns fassen! Wenn sie uns einen Prozeß machen! Wenn das ganze Ausland erfährt, wie Heydrich mit seinen Feinden abzurechnen pflegte! Wenn Ira spricht! Und sie wird es tun. Sie hat keine Ahnung, keine Erfahrung …
Der Motor heulte wie ein hungriger Wolf. Hundert Sachen. Aufgelegter Selbstmord.
»Fahr doch langsam!« knurrte der Mann namens Georg. »Halten Sie den Mund«, zischte Stahmer.
Seine linke Hand steckte in kochendem Öl. Sein Verstand arbeitete wieder ruhig. Formis war gewarnt worden … Wodurch? War ich unvorsichtig? Nein! Georg? Keiner hatte ihn gesehen! Stahmers Augen suchten eine Sekunde lang wie von selbst die neben ihm kauernde Ira …
Sie fing den Blick auf. Er weiß es, sagte sie sich. Aus und vergeblich …
»Was … was war los?« fragte sie.
»Nichts«, erwiderte der Agent barsch.
»Wer … wer hat geschossen?«
»Mal keene Bange … Frollein …«, sagte der Mann auf dem Hintersitz selbstbewußt, » … der redet nicht mehr …«
Einen Moment möchte Stahmer mit der unverwundeten Hand auf die junge Frau einschlagen, sinnlos vor Zorn und Angst. Diese Idee, Heydrich, denkt er! Dein glorreicher Gedanke, mir eine Anfängerin mitzugeben, deren Nerven der Sache nicht gewachsen sind. Eine Verräterin! Eine …
Die erste Ortschaft flog vorbei. Stahmer brauchte nicht auf die Karte zu sehen. Jetzt nach rechts; zwei, drei Stunden vielleicht noch konnte er den Wagen benutzen. Dann mußte er ihn stehenlassen, zu Fuß gehen. Wenn sie Georg fassen? Er wird schweigen. Ich auch. Aber Ira muß weg. Sofort. Sie dürfen sie nicht greifen. Er bohrte die Zähne in die Unterlippe. Ich werde mit ihr abrechnen, dachte er. Aber nicht hier, drüben, in Deutschland. Wir werden ihr zeigen, was es heißt, uns in den Rücken zu fallen …
Die junge Frau schreckte hoch. Sie war so verstört, daß sie sprechen wollte. »Ich habe …«, begann sie zögernd, »mit ihm …«
»Halten Sie den Mund!« brüllte Stahmer Ira an.
»Ich meine … Formis …«
»Sie sollen Ihre Schnauze halten!« fuhr der Agent sie brutal an. Dann zwang er sich zur Ruhe. »Hören Sie …«, sagte er, »es ist nichts geschehen … Sie sprechen mit niemandem … mit keinem Menschen darüber …« Seine kalten Augen stachen in ihre Gesichtshaut. Er langte in die Brieftasche, zog ein Kuvert heraus.
»Ich setze Sie gleich ab«, wandte er sich an Ira. »Sie fahren mit dem Zug bis Prag … Morgen früh um acht Uhr sind Sie am Flugplatz … die Maschine der Lufthansa startet um acht Uhr dreizehn. Sie heißen wieder Ira Puch … In dem Kuvert ist Ihr Paß, Flugkarte, Geld … Verstanden?«
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