Auf einmal weinte die junge Frau. Der Krampf schüttelte sie. Erleichternd. Fest. Zuckend.
»Das hat uns noch gefehlt«, sagte Georg grinsend.
Stahmer starrte durch die Windschutzscheibe. Noch rührte sich nichts. Er passierte die nächste Ortschaft, die übernächste. Die Dörfer waren längst schlafen gegangen. Der kalte Schneewind trieb die Bewohner vorzeitig in die Betten.
Der Agent griff mit der rechten Hand nach Iras Arm. »Für Sie ist ja alles gleich vorbei …«, sagte er. »Was sollen Sie tun?«
»Von Prag aus nach Berlin fliegen«, entgegnete Ira.
»Und dort haben Sie mit niemandem zu sprechen … sonst …«
Der Wagen erreichte das Kreisstädtchen. Im Bahnhof war noch Licht. Stahmer hatte den Fahrplan im Kopf. Zwanzig Uhr zweiunddreißig. Geschafft, überlegte er. In vier Minuten fuhr der letzte Zug ab in die Goldene Stadt.
»Los, schnell!« herrschte er das Mädchen an.
Ira stieg aus. Stahmer sah ihr nach. Sie kann nicht gemerkt haben, daß ich ihren Verrat durchschaut habe, dachte er.
Wenn sie erst in Berlin ist …
Der Polizeiwagen hatte längst das einsame Hotel über der Moldau erreicht. Die Männer sprangen aus der Limousine, stürmten das Haus. Als sie auf die entsetzten Zeugen des Überfalls stießen, wußten sie, daß sie zu spät gekommen waren. Ihre Flüche rissen erst ab, als sie das Gesicht des Sterbenden sahen.
Man hatte Rudolf Formis auf die Ofenbank gelegt. Der Kommissar beugte sich über ihn. Drei Schüsse. Jeder hatte getroffen. Mit jedem Atemzug quoll ein Stück Leben aus dem verwundeten Körper. Die Decke färbte sich rot wie die Scham. Ein Arzt war unterwegs, aber er mußte zu spät kommen. Der Todeskampf hatte schon eingesetzt. Formis hielt die Augen offen. Die Pupillen glänzten fiebrig und fern.
Der Kommissar ging an das Telefon. Verbindung mit Prag. Neben ihm stand der Wirt. Sein Gesicht war entstellt. Sein Schädel schmerzte: Es galt einen Mörder zu verfolgen, deshalb hielt der Mann durch. Der Anschluß ließ ein paar Minuten auf sich warten. Der Polizeibeamte fluchte. Dann, als ob ihm der Sterbende eingefallen sei, wurde seine Stimme weich und leise. »Haben Sie die Autonummer?«
Der Wirt schüttelte betroffen den Kopf.
»Was für ein Wagen?«
»Eine schwarze Limousine.«
»Das Fabrikat?«
»Mercedes … es waren zwei Männer und eine Frau …« Der Wirt beschrieb sie, so gut er konnte.
Endlich war die Zentrale in der Leitung. Der Kommissar gab seine Meldung durch. Er wußte, daß binnen weniger Minuten die Grenzen hermetisch abgeriegelt würden, daß man sich Menschen mit deutschen Pässen genau ansehen würde. Seine Lippen warfen sich bitter auf. Wenn ich schon diesen Mann nicht retten konnte, will ich wenigstens seinen Mörder fassen …
Der Kommissar ging mit schleppenden Schritten zur Ofenbank. Inzwischen durchsuchten seine Beamten das Haus. Das Gesicht von Formis zuckte. Es war noch spitzer geworden. Der Tod bereitete seine Maske vor. Die Augen des Sterbenden lebten auf einmal. Die Iris wirkte nicht mehr fern, sondern nah, nicht mehr starr, sondern klar.
Vielleicht sah Rudolf Formis in diesen letzten Minuten in einer Vision, für was er gekämpft hatte. Vielleicht sah er nackte Menschen im Schnee, qualmende Krematorien in Polen. Vielleicht sah er die Häftlinge mit den Totenköpfen, denen man Luft in die Venen spritze. Vielleicht sah er junge Frauen als lebende Leichen in den Bassins der Kaltwasserversuche treiben. Oder andere, denen Mörderhände den Unterleib zerschnitten. Vielleicht sah er über den Bock geschnallte Männer, die laut die Schläge zählen mußten, mit denen man aus ihnen das Leben herausprügelte. Oder andere, denen man die Schädeldecke zertrümmerte, die man verhungern ließ oder erfrieren, die mit klammer Hand ihr eigenes Loch in den frostkalten Boden wühlen mußten. Oder jene, die wegen ihrer Nase oder ihrer Gesinnung starben, oder weil sie an Gott glauben, oder auch nur, weil sie Menschen sind. Vielleicht sah er kleine Kinder, die von uniformierten Mördern mit den Köpfen gegen die Mauer geworfen wurden, wie junge Katzen von rohen Bauern. Dann ging das Weinen der Kinder in das Knattern der Maschinengewehre über. Dann rasselten Ketten über Körper, und hinter den Hecks der Panzer, die für Hitler rollten, blieben Menschen zurück, die nicht mehr dem Ebenbild Gottes entsprachen, sondern deren Leiber sich nach Gliedketten addierten.
Und eine Erkenntnis brach sich grell in den Augen von Formis: daß eine Welt gegen diese Barbarei aufstehen und sie hinwegfegen würde.
Er wußte, daß er lange genug gelebt hatte. Seine Augen schlossen sich wie von selbst. Als seine Backenmuskeln steif wurden, wirkte sein Gesicht weich. Die Züge wurden ausgeglichen, fast heiter. Ein stilles Lächeln verklärte sie. In diesen letzten Sekunden durfte ein Mann, ein Mensch erfahren, wie schön es sich mit drei Einschüssen in der Brust stirbt, wie erhaben es ist, sein eigenes Blut über eine dreckige Ofenbank rinnen zu lassen, wenn es zum Sieg über das Unrecht beiträgt.
Sein Gesicht war schön. Sein Tod hatte nichts Häßliches …
Der Kommissar richtete sich auf.
»Tot«, sagte er knapp.
Fast gleichzeitig zerfetzte ein Knall die majestätische Stille des Sterbens. Die Mauern zitterten ein paar Sekunden. Im zweiten Stock hatte die explodierende Höllenmaschine den Sender des toten Rudolf Formis ausgelöscht …
Die Nacht fror. Der Wind sang. Der Motor brummte. Ein Hund heulte. Die Autoscheinwerfer rissen mit grellen Armen Löcher in die Nacht. Der Mann am Steuer schwieg verbissen. Jeder Pulsschlag stach in seine verwundete Hand. Werner Stahmer hatte ein Taschentusch darum gewickelt. Mehr konnte er nicht tun. Es war zweiundzwanzig Uhr vier. Die Polizei warf ihr Netz aus. Noch das letzte Dorf wurde alarmiert. Jede Straße abgeriegelt. Die eigene Beschreibung dröhnte dem Agenten in den Ohren. Sinnlos sagte er in Gedanken vor sich hin: »Werner Stahmer ist einen Meter vierundachtzig groß, blond, hat eine hohe Stirn und helle, schräg zueinander abgesetzte Augen. Achtung, der Mann ist bewaffnet. Nur einmal anrufen … sofort schießen.«
Er nickte verdrossen. Dann kam die gefährliche Linkskurve. Sein Fuß ließ dem Gaspedal Raum. Er beugte sich etwas nach vorn, dichter an die Windschutzscheibe. Irgendwo hinter einer solchen Biegung mußte er auf die erste Sperre stoßen …
»Soll ich Sie am Steuer ablösen?« fragte der Mann namens Georg.
Stahmer schüttelte den Kopf. Seit Ira ausgestiegen war, saß der Mörder neben ihm. Ein stupider, stumpfsinniger Bursche, der unfähig war, zu übersehen, was er angestellt hatte. Und Stahmer mußte ihn mitschleppen.
»Ich weiß gar nicht, was Sie haben«, brummte Georg, »ohne mich wären Sie jetzt mausetot.«
»Unsinn«, antwortete der Agent.
»Der Kerl hätte Sie umgelegt …«
Stahmer sah auf das durchblutete Taschentuch an seiner Hand. »Wenn Formis öfter eine Pistole in der Hand gehabt hätte«, sagte er fast wider Willen, »dann säße jetzt der Verband woanders …«
»Ist doch alles gut«, versetzte Georg, »der Bursche ist kalt … der Sender ist in die Luft geflogen …«, er grinste, »und wir hau’n ab.«
»Sie kannten Heydrichs Befehl«, entgegnete Stahmer erregt, »und Sie werden sich in Berlin verantworten …« Seine Stimme wirkte ruhiger: »Wissen Sie überhaupt, was Sie angerichtet haben? … Wenn die Tschechen uns schnappen … oder das Mädchen … Was meinen Sie, wie die Auslandspresse diesen Fall aufzieht.«
»Die hetzen sowieso bloß gegen den Führer«, erwiderte der Komplize überzeugt.
Erst hat das Auto spurlos zu verschwinden, überlegte Stahmer, und dann wir! Jetzt fror und schwitzte er gleichzeitig. Das Wundfieber, dachte er verschwommen. Aber er fuhr weiter, langsamer jetzt. An der nächsten Kreuzung bog er nach rechts ein. Feldweg. Er betrachtete ihn ein paar Sekunden prüfend. Mit Schneeketten würde es zu schaffen sein. Die weglose Straße führte zu einem einzelnen Gehöft. Dann wurde sie noch schmaler. Der zittrige Strahl des Scheinwerfers erfaßte ein Wäldchen.
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