»In den Niederlanden habe ich meinen Namen einfach mit K geschrieben. Hier habe ich Cees daraus gemacht, das klingt beschwingter, weniger holländisch, denn in den Niederlanden fand ich nichts von meiner surinamischen Kultur wieder.« Als Junge saß er einmal mit seinem Vater in der Straßenbahn, als eine Frau auf Anton de Kom deutete und zu ihrem Kind sagte: »Schau, das ist der schwarze Mann. Pass bloß auf, sonst kommt er dich bald holen.« Es gab auch Kinder, die es auf Cees abgesehen hatten: »Kauf dir bloß keine Seife, du bleibst eh schmutzig«, riefen sie. Und später, immer noch in den Niederlanden, als er für die PTT arbeitete, den Staatsbetrieb für Postwesen, Telegrafie und Telefonie, und mit Kollegen über kulturelle Unterschiede sprach, sagte ein Niederländer unbeholfen: »Wenn ich in Groningen bin, habe ich für die Menschen dort auch einen fremden Akzent.« Bei der Umbettung der sterblichen Überreste seines Vaters am 18. August 1960 auf den Ehrenfriedhof für Kriegsgefallene in Loenen wurden alle Namen vorgelesen, nur der von de Kom nicht. Die Erklärung: ein technischer Defekt. »Immer diese hinterhältigen Gemeinheiten«, seufzt Cees. Immer der Unterlegene sein, nicht verstanden werden – darauf hatte er keine Lust mehr. Sechs Jahre später fuhr er mit seiner Familie auf der MS Oranje Nassau in das Land seines Vaters. Dieselbe Reise, die seine Eltern etwa dreißig Jahre zuvor unternommen hatten. Doch auch in Suriname zeigte sich, dass das Eigene nicht immer genügend geschätzt wird. »Fast alle Bücher, die man hier liest, kommen aus den Niederlanden.« Die Familie ist über eine Stiftung Eigentümerin von Anton de Koms Geburtshaus. Die Mittel fehlen, um es zu restaurieren. Die Behörden kümmert es nicht.
Die niederländische Knute hinter sich zu lassen, das stand de Kom vor Augen, als er sein zum Klassiker gewordenes Buch geschrieben hat: »Kein Volk kann aber zu voller Blüte gelangen, das erblich mit einem Minderwertigkeitsgefühl behaftet ist. Deshalb möchte dieses Buch die Selbstachtung der Surinamer wachrütteln.« (S. 60) 2020, dem Jahr, in dem Suriname seit 45 Jahren unabhängig ist, haben diese Worte nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Mit Wir Sklaven von Suriname war de Kom seiner Zeit weit voraus. Nicht nur für die Surinamer, auch für die Niederländer. Das Land, über das die Niederländer über 300 Jahre regiert haben, bildete lange einen blinden Fleck in der Kolonialgeschichte. Erst seit ein paar Jahren nimmt Suriname einen bescheidenen Platz im kollektiven Bewusstsein ein. Eine Veränderung, die nur ruckweise verläuft. Und die Geschichte kommt nicht ohne Auswüchse daher. Als ich in den 1970er-Jahren in Amsterdam aufwuchs, schrieb ich in meiner Kinderhandschrift einen Brief an die Redaktion meiner Lieblingsmädchenzeitschrift Tina . Ich war zwölf Jahre alt. Nach einem Kompliment über die Zeitschrift fragte ich, warum es nie ein schwarzes Mädchen auf das Titelbild schaffe? Jeden Tag suchte ich im Briefkasten nach einer Antwort. Dass ich sie nie erhielt, traf mich tief.
Das Werk von Anton de Kom beeindruckt nicht nur durch seine enorme Aussagekraft, sondern auch durch den Mut, mit dem er Missstände zur Sprache gebracht hat. Es ist eine Anklage gegen den nüchternen Unternehmergeist, die Kleinkrämermentalität, mit denen man ein Land und sein Volk ausgequetscht hatte. Es ist keine schöne Geschichte, aber es ist sehr wohl unsere gemeinsame Geschichte. Die holländischen Vorfahren soffen, hurten und folterten in der Kolonie nur so drauflos, auch aus Langeweile und Frustration wegen des öden Plantagenlebens. Das Ausmaß dieser Dekadenz war im eigenen puritanischen Vaterland undenkbar. De Kom, der in Suriname Geschichtsunterricht über die berühmten niederländischen Seeräuber wie Piet Hein und Michiel de Ruyter erhielt und der die Namen der Gouverneure, die seine afrikanischen Vorfahren in den Schiffsbäuchen verschleppt hatten, auswendig lernen musste, versuchte, tief in die Psyche der Sklavenhalter einzudringen. Er ist ihnen immerzu auf den Fersen und rückt ihnen auf den Pelz, ohne auch nur einen Moment den Druck herauszunehmen. Man kann sich de Kom schreibend vorstellen, weit vorgebeugt auf der Stuhlkante, den Bleistiftstummel auf das Papier drückend. Seine Sprache ist geschmeidig, essayistisch und manchmal lyrisch, mit erstaunlichen Sprachbildern. Von der Handwerkskiste eines Schriftstellers Gebrauch machend, haucht er seinem Werk Farbe und Gefühl ein. Und nirgends vergisst er seinen Hintergrund, wie es treffsicher in einem Odo , einem surinamischen Sprichwort, zum Ausdruck kommt: Im Schnabel eines Vogels kann die Kakerlake ihr Recht nicht geltend machen.
Wann hat das Verschweigen dieser Seite der Geschichte eigentlich angefangen? Wer davon sprach, konnte lange Zeit mit einer schulmeisterlichen Antwort rechnen, wie etwa: »Naja, überlege mal, was die Franzosen und die Briten getan haben, und sogar die Afrikaner!« Wie die Ausrede eines Käufers von Diebesgut. Einmal ertappt, weist dieser eifernd auf den Hehler und den Dieb: Nicht ich, sie! Und doch: Wo keine Nachfrage, da kein Angebot. Hier und da werden Denkmäler errichtet, die an das Leid erinnern. Man bringt erklärende Texte zu in Ungnade gefallenen Kolonialherren an. Sich aber umzudrehen und dem eigenen Monster in die Augen zu starren, das bereitet noch immer Mühe.
Wir Sklaven von Suriname hält uns auch heute noch einen Spiegel vor. Das Buch verbreitet die Botschaft von Macht versus Minderheit, von Kapital versus Armut. Spielend leicht lassen sich Parallelen zur Gegenwart ziehen: die miserable Situation von Flüchtlingen im Westen, auch in den Niederlanden. Chinesen, die mit einem Kartell im Nacken von früh bis spät in Geschäften stehen. Drogenbanden, die in Lateinamerika Bürger erpressen, Frauenhandel, Kinderarbeit in asiatischen Textilfabriken. Es sind immer Systeme, die den Rahmen schaffen, aus denen Individuen ihren Vorteil ziehen. Unterdrückung gründet sich auch ausdrücklich auf Stereotypen: Wir gegen die unbekannten, fremden Anderen. Der Vormarsch rechter Populisten in der Welt basiert zu einem wesentlichen Teil auf diesem Wir-Sie-Denken. Der andere ist faul oder kriminell oder beides. »Wollen wir mehr oder weniger Marokkaner?«, fragt Geert Wilders. Noch entschiedener klingt die Parole: Sei normal oder hau ab. America first , aber wem gehört Amerika eigentlich? Aus dieser Position spricht ein vermeintlicher Anspruch auf Eigentum. De Kom durchschaute diese Sichtweise nur allzu gut. Hinter dem anonymen Wort Sklave fügte er zwischen zwei Anführungszeichen »unsere Väter« hinzu. Unsere Väter, nicht einfach nur namenlose Wesen.
Welche Aktivisten in der Welt gibt es nach Anton de Kom, Mahatma Ghandi, Martin Luther King, Rosa Parks, Malcolm X und Nelson Mandela, die für die als selbstverständlich angesehenen Menschenrechte kämpfen? Sind die Appelle laut genug? Anton de Kom deckte die Mechanismen hinter dem Phänomen der Unfreiheit auf. Hinter der Armut.
Auf dem Gehweg vor der berühmtesten Hütte von Paramaribo lässt die Blume in der Hand des alten Mannes wegen der Hitze ihren Kopf hängen. Er steht auf und schlurft mit den zu großen Badelatschen die Straße hinunter.
Judith de Kom
VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE (1981)
»Die Wahrheit facht den Sturm gegen sich an,
der die Saat in die Weite trägt.«
Tagore
»Kein Volk kann aber zu voller Blüte gelangen, das erblich mit einem Minderwertigkeitsgefühl behaftet ist. Deshalb möchte dieses Buch die Selbstachtung der Surinamer wachrütteln«. Dies schreibt Anton de Kom in dem Kapitel »Die Geschichte des Vaterlands«. (S. 60)
Er ahnte, dass das surinamische Volk, belastet mit dem Kolonialerbe, einen langen und schweren Weg vor sich hatte, um sich zu einer vollwertigen Nation zu entwickeln.
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