Schön und gut, ich war Hans Ullrich Garden entronnen — aber was weiter? Ich stand mitten in der Nacht in einer fremden Großstadt, von der ich nicht mehr als das Geschäftsviertel und auch das nur am hellen Tag kannte. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Gegend der Stadt ich mich befand und ob von hier aus Omnibusse oder Straßenbahnen fuhren. Nur eins war mir ziemlich klar, nämlich daß ich vom Bahnhof so weit wie irgend möglich entfernt war. Ein Taxi wäre jetzt die — wenn auch ziemlich teure — Rettung gewesen, aber ich hatte keinen Schimmer, ob und wo sich hier in der Gegend ein Taxistand befand.
So stand ich denn mehr vor Aufregung als vor Kälte zitternd mutterseelenallein auf der stillen Straße und stellte wieder einmal fest, daß ich mich wie eine dumme Gans benommen hatte. Um mich rauschten die Bäume in den Gärten der Villen, ein Käuzchen schrie — ich nahm jedenfalls an, daß es ein Käuzchen war —, aber sonst war kein Laut zu hören. Nur aus wenigen Fenstern schien noch Licht — und wenn es mehr gewesen wären, was hätte es mir geholfen? Ich konnte ja nicht einfach an irgendeiner Haustür klingeln und erklären: »Ich bin die Studentin Sonja Horn und durch einen lächerlichen Zufall in diesen Stadtteil geraten. Bitte sagen Sie mir, wie ich am schnellsten zum Bahnhof komme!«
Mein Herz schlug höher, als ich das sanfte Brummen eines Motors hörte. Ich blieb, immer noch an den Gartenzaun gepreßt, stehen, sah, wie die Lichter der Autoscheinwerfer sich immer tiefer in die Dunkelheit hineinfraßen. Ich gab mir einen Ruck, sprang auf die Hauptstraße zurück und winkte mit der Hand.
Das Auto, das sich im Schrittempo genähert hatte, hielt sofort. Ich lief darauf zu, öffnete den Wagenschlag und stieg ein. Jetzt erst sah ich, warum es so lange gedauert hatte, bis Hans Ullrich Garden mich eingeholt hatte — er hatte sich eine Zigarette angesteckt und inzwischen fast zu Ende geraucht.
Ich hatte das Gefühl, daß ich irgendwie mein Gesicht wahren müßte, und sagte: »Ach, Sie sind es! Ich hatte gehofft, ein Taxi zu erwischen.«
»Geben Sie lieber zu, daß Sie sich zwar tugendhaft, aber dumm benommen haben, Mädchen!«
»Mag sein. Aber schuld daran sind Sie. Ihr Benehmen gegenüber alleinreisenden jungen Damen läßt sehr zu wünschen übrig.«
»Danke.«
»Bitte«, sagte ich nicht weniger kurz. Ich ließ soviel Zwischenraum zwischen uns wie nur möglich.
Ich wußte, daß ich eine Schlacht verloren hatte, und ärgerte mich. Wieder einmal hatte ich Gelegenheit zu bereuen, daß ich nicht raffiniert genug bin. Eine Frau mit Sex-Appeal hätte sich bei einer ungelegenen Küsserei bestimmt effektvoller aus der Affäre gezogen, vor allen Dingen wäre sie niemals zu dem Auto des Verführers zurückgelaufen. Was man tun mußte, um den Männern zu imponieren, wußte ich ganz genau — nur wie man es tatsächlich anfing, dabei versagte ich. Es war zum Heulen.
»Sie sind mir doch nicht wirklich böse, Sonja, wie?« fragte Hans Ullrich Garden in meine Gedanken hinein.
»Doch«, sagte ich wütend.
»Hören Sie mal, Sonja, wenn es Ihnen nicht Spaß gemacht hätte …«
»Bitte, werden Sie jetzt nicht unverschämt!« schnitt ich ihm das Wort ab. »Ob es mir Spaß gemacht hat oder nicht, das steht doch jetzt gar nicht zur Debatte. Es handelt sich einzig und allein darum, daß Sie sich unkorrekt benommen haben, Herr Garden! Wenn Ihre berühmten Erfolge alle auf ähnlicher Basis beruhen, dann kann ich nur sagen …« Ich wußte nicht recht, was ich wirklich dazu sagen sollte, mußte eine kleine Pause einlegen und behauptete dann: »Primitiv! Ja, das ist das richtige Wort — primitiv. Zum Kuckuck, was müssen das für Frauen sein, die sich von solch einem Benehmen beeindrucken lassen! Ich gehe jede Wette ein, keine von Ihren Verehrerinnen ist über achtzehn, wie?«
Zu meiner Überraschung stimmte er ohne weiteres zu. »Na ja, die meisten nicht«, sagte er. »Ich habe nun mal was übrig für die Teenager.«
»Daß ich nicht lache!« sagte ich böse. »Ihre ganze Vorliebe beruht auf der Erfahrung — je jünger, desto anspruchsloser! Stimmt’s oder habe ich recht?«
Statt einer Antwort sagte er: »Wo darf ich Sie hinbringen, Sonja?«
»Wohin schon? Zum Bahnhof.«
»Ich fürchte aber, es geht heute kein Zug mehr.«
»Ah, das haben Sie also gewußt, und trotzdem …«
»Sonja, bitte regen Sie sich doch nicht auf — ich habe es wirklich nur gut mit Ihnen gemeint!«
»Wohin wollten Sie mich eigentlich entführen?« fragte ich sachlich.
»Na ja, ich wohne hier ganz in der Nähe.«
»In einer tollen Villa mit Swimming-pool und allem Komfort! Hätte ich mir denken können.«
»Genau. Nur daß sie nicht mir gehört. Ich habe sie gemietet, aus Repräsentationsgründen, verstehen Sie? Ich persönlich, als bescheidener Junggeselle, ich wäre mit ein, zwei Zimmern und einem Bad natürlich völlig zufrieden. Aber was soll man machen? Das Publikum verlangt gewisse Zugeständnisse.«
»Sie armer Mensch!« Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte an, daß es gleich ein Uhr sein würde. »Bringen Sie mich bitte zum Bahnhof«, sagte ich, »ich werde warten, bis der nächste Zug geht.«
»Warum wollen Sie nicht lieber hier übernachten, Sonja? In einem Hotel?«
»Haben Sie Begriffe! Die Reise hat mich sowieso mehr Geld gekostet, als ich verantworten kann …«
»Stimmt«, sagte er sofort. »Gut, daß Sie mich daran erinnern, bitte schreiben Sie alles auf, was Sie an Spesen gehabt haben — also, Hinfahrt, Rückfahrt, Hotel, Mittagessen, Abendessen, Frühstück —, und schicken Sie mir diesen Zettel mit Ihrer Unterschrift zu. Sie bekommen natürlich alle Auslagen ersetzt!«
»Aber — was fällt Ihnen ein?« wollte ich protestieren.
Hans Ullrich Garden grinste. »Nicht aus meiner Tasche, Mädchen. Für so etwas haben wir eine Verwaltung. Sie wird jede einzelne Ausgabe nachprüfen — also seien Sie auf keinen Fall zu kleinlich, gestrichen wird immer irgendwo etwas.«
»Aber ich — ich bin doch nur als Zuschauerin gekommen!«
»Na, wenn schon. Als was Sie gekommen sind, interessiert doch keinen Menschen. Jedenfalls haben Sie als meine Assistentin das Funkhaus verlassen. Ist das klar?«
»Wollen Sie mich denn überhaupt noch nehmen?«
»Warum nicht?« fragte er erstaunt. »Glauben Sie etwa, daß ich Ihnen böse bin?«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls enttäuscht.«
»Na ja, da ist was Wahres dran. Aber Sie kennen mich schlecht, wenn Sie jetzt glauben, daß Sie mich kleingekriegt haben. Ein Hans Ullrich Garden läßt sich doch von so einer Enttäuschung nicht einfach umwerfen — nein, das ist bei mir nicht drin. Wenn’s heute nicht geklappt hat, klappt’s vielleicht ein andermal. Wollen wir es so halten, Mädchen?«
»Herr Garden«, sagte ich, »es tut mir leid, wenn ich Ihnen widersprechen muß. Es wäre schlimm, wenn Sie sich falsche Hoffnungen machen würden. Ich habe nämlich gewisse Prinzipien …«
Er lachte. »Wunderbar. Ich nämlich auch. Habe ich nicht immer gesagt, wir beide passen großartig zusammen?«
»Wenn Sie mich nur engagiert haben, weil Sie sich einbilden, daß Sie früher oder später…«
»Ach was, Unsinn«, unterbrach er mich. »Ich habe Sie engagiert, weil Sie mir das Leben gerettet haben. Jawohl, das haben Sie. Außerdem — wie oft soll ich es Ihnen noch sagen —, Sie sind eine Persönlichkeit. Für einen Mann wie mich, der von Heuchlern und Schmeichlern umgeben ist, ist es einfach unbezahlbar, eine Persönlichkeit in seiner Nähe zu wissen. Sie glauben wohl, alles, was ich Ihnen erzählt habe, war Schmus? Da irren Sie sich aber gewaltig, Sonja. Sie sind und bleiben die Frau meines Lebens, und eines Tages werden Sie es bestimmt noch einsehen.«
Renate war von meinem Bericht völlig erschlagen, aber als ich ihr meine Absicht, als Assistentin bei Hans Ullrich Garden zu arbeiten, bekannt gab, schüttelte sie denn doch bedenklich den Kopf. »Sonja«, sagte sie, »hör auf deine alte Freundin — du bist dabei, deine Tugend mutwillig zu gefährden!«
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