„Meinen Sie? Aber das geht wohl nicht?“ fragte ich.
„Warum soll das nicht gehen?“
„Ich meine hier im Zimmer“, sagte ich. Es schien mir schon zu viel, daß ich das sagte. Es klang so nach Zustimmen mit Gloria Viktoria. Durfte ich das?
„Du meinst, es müßte im Freien gemalt werden? Hm. Ich könnte immerhin ein paar Studien dazu machen. Für das Gesicht und die Haltung.“
Ich muß gestehen, mir klopfte das Herz.
„Heute?“
„Hast du Zeit?“
Ich hatte eigentlich keine; denn daheim wußten sie nicht, wo ich war, und es würde Ärger geben. Vater verlangt, daß wir zum Abendbrot zu Hause sind. Ein erwachsener Mensch ist einfach nicht fähig, diese täglich sich wiederholenden Worte zu ertragen: ,Halb acht bist du aber hier!‘ Noch dazu von einem Mann, der gar nicht der richtige Vater ist. Immer wieder das alte Lied!
Es war kurz nach halb adit gewesen, als ich das letztemal auf die Uhr sah. Jetzt war es sicher schon viertel oder halb neun. Nun, Krach gab es so oder so. Ich sagte also:
„Doch, Zeit hab ich.“ So fing es an. Schon beim ersten Mal merkte ich, wie gut es tun kann, still zu sitzen und zu denken, bei jemandem, den man kennt und gern hat. Nicht zu sprechen, wenn man nicht mag, aber auch nicht zum Schweigen verurteilt zu sein. Einmal richtig, tief, lautlos in sich selbst hineinzusinken. . .
Ich bin längere Zeit nicht zum Schreiben gekommen. Jetzt ist schon Mai. Nicht sehr sdhön und strahlend, aber sehr viel hat man von den Jahreszeiten sowieso nicht, wenn man in der Stadt wohnt. Neulich hatte ich einen furchtbaren Krach mit Axel.
Ich zahle ihm jede Woche einen Teil meiner Schulden ab, schon deshalb, weil ich es dann nicht anderweitig ausgeben kann. Ich will diese Verpflichtung so schnell wie möglich los sein. Am letzten Samstag aber hatte ich einfach keine Lust, alles, was ich in der Woche verdient hatte, sofort wieder wegzugeben, und als ich auf dem Heimweg ein hübsches, seidenes Tuch sah, kaufte ich es mir. Es ist pariserisch bedruckt mit Bildern vom Montmartre und den Noten eines Schlagers, den jetzt jeder pfeift. Ich kaufte es und band es stolz um. Dabei versuchte ich, mein Gewissen zu beruhigen, indem ich mir sagte, ich könnte ausnahmsweise einmal, ein einziges Mal auch etwas für mich ausgeben.
Als ich nach Hause kam, war Axel zum Unglück allein da. Er schnauzte mich an, warum ich erst jetzt käme, und verlangte das Geld. Es war ja Sonnabend. Ich sagte bockig, ich hätte heute keins. Er hatte mit dieser Möglichkeit überhaupt nicht gerechnet und sah erstaunt auf. Da entdeckte er das Tuch. Nun ging es los.
Was ich mir denn eigentlich einbildete? Versprochen wäre versprochen! Da hinge ich mir bunten Firlefanz an den Leib, er aber kame nicht zu seinem Recht.
Er tobte, ich bekam Angst. Wir waren allein in der Wohnung. Aber als er das mit dem Firlefanz sagte, kochte es in mir über. Ich bin kein Mädel, das alles der Eitelkeit opfert. Darauf war ich im geheimen von jeher ein wenig stolz. Wenn ich mir nun ein einziges Mal ein buntes Tuch kaufte. . .
Ich antwortete ihm in gleicher Lautstärke – und ungefähr in der gleichen Auswahl der Worte. Dann warf ich die Tür hinter mir zu, rannte in den Keller und nahm sein Rad, mit Absicht das seine. Ich wollte, daß er sich ärgerte. Wohin ich fahren würde, wußte ich noch nicht, nur fort mit seinem Rad, nur mich an ihm rächen. Er brauchte es an diesem Abend. Meines war angeschlossen. Er sollte sich ärgern, er sollte!
Natürlich ist eine Rache dieser Art gemein. Hinterhältig ist sie. Sie sollte mir auch kein Glück bringen.
Ich landete zunächst bei Bärbel. Manchmal gehe ich hin, wenn ich in der Mathematik nicht weiterkomme. Bärbel hat darin eine tolle Begabung. Dafür mache ich ihr zuweilen einen Aufsatz. Ihre Eltern wohnen draußen in der Siedlung. Sie haben einen kleinen Garten und einen Sitzplatz im Freien. Dort spielen wir dann Tischtennis oder Federball. Bärbel hat noch vier Geschwister.
An diesem Nachmittag waren alle zu Hause und außerdem noch ein paar Jungen und Mädel. Bärbels Bruder und ein Freund von ihm fochten gerade einen erbitterten Kampf im Tischtennis aus. Sie spielen hervorragend. Wie sie die Kantenbälle auflöffelten, die ich schon als verloren gezählt hatte, und wie sie Schmetterbälle gaben, das war einfach großartig. Nachher futterten wir den ganzen Sonntagskuchen auf. Bärbels Mutter brachte zwei Riesenteller davon heraus und Kaffee und Becher. Wir saßen im Gras und auf den Pfosten des niedrigen Scherengitterzaunes und lachten und kälberten.
Bei Bärbel ist meistens was los. Ich war, glaub ich, noch nie dort, ohne daß Freunde oder Freundinnen von ihr oder ihren Geschwistern dort waren. Die Eltern sitzen auch oft dabei und machen mit. Ihr Vater ist Architekt. Darum ist das ganze Häuschen auch so ,richtig‘. Die Mutter ist nicht berufstätig, sie sieht Bärbel sehr ähnlich, ist blond, untersetzt und lachlustig. Ihre Söhne sind anderthalb Köpfe größer als sie; damit wird sie immer geneckt.
Man könnte Bärbel beneiden. Ich jedenfalls wäre glücklich, wenn ich so ein Zuhause hätte wie sie. Warum ist es bei uns so ganz anders? Heidi und Bärbels Mutter würden gut zusammenpassen. Woran liegt es, daß es bei uns nie so sein kann wie dort?
An diesem Tag wollte ich Bärbel eigentlich von Axel erzählen. Wie gemein er ist, und wie er mich behandelt. Manchmal sehnt man sich danach, sich so etwas von der Leber zu reden. Ich hatte sogar gehofft, Vielleicht mit Bärbels Mutter sprechen zu können. Mit ihr wäre das möglich. Es tut mir leid für Heidi, das zu sagen, es ist aber so. Bärbels Mutter ist, glaube ich, wie eine Mutter sein sollte und wie früher viele waren. Sie ist einfach für ihre Kinder da. Liegt das nur daran, daß Heidi einen Beruf hat?
Natürlich hätte ich mir für ein solches Anliegen keinen Sonnabend-Nachmittag aussuchen dürfen. Das wurde mir in dem Augenblick klar, als ich ankam. Nun, dann eben nicht.
Vielleicht aber hätte ich mich auch sonst nicht mit meinen Problemen herausgetraut. Es ist dort so anders. Die Brüder können auch frech sein und mitunter grob, aber daß sie Bärbel so behandeln wie Axel mich, das wäre unvorstellbar. Vielleicht würde mir das keiner glauben. Es ist eine andere Luft dort, eine klare Luft, frisch und trotzdem warm.
„Was macht eigentlich dein Maler, bei dem du sauber machst?“, fragte mich Bärbel mit vollem Mund. „Gehts ihm besser? Er war doch krank.“
„Ja, stell dir vor, der malt mich jetzt“, sagte ich. Wir saßen ein bißchen abseits, keiner von den andern konnte uns zuhören. „Erzähl es aber um Himmels Willen nicht weiter. Wenn jemand davon erfährt, dürfte ich nie wieder hin.“
„Ach was, ich halt doch den Mund. Pastell oder Öl?“
„Öl, lebensgroß.“
„Donnerschlag! Mußt du oft sitzen?“
Ich erzählte. Wir wurden aber unterbrochen, denn die Jungen ließen uns nicht in Ruhe. Sie riefen zu uns herüber, ob Bärbel die nächste Fahrt mitmache.
„Schön wärs! Wir haben nur jetzt immer sehr viel auf“, sagte Bärbel. Dann erzählte sie von ihren Fahrten.
Sie gehört zu einer Jugendgruppe, mit der sie Rad- und Schitouren macht. Sie schlafen dann in Jugendherbergen oder zelten. Dazu haben sie eine große Kote, das ist ein rundes Zelt, in dessen Mitte man sogar ein Feuer anzünden kann.
„Letztes Mal haben wir Würste an Stöcken gebraten, das war lustig“, sagte sie. „Braten ist leidit, aber essen! Wir haben uns halb tot geladit. Einer – der dort drüben, Eberhard heißt er – hat sich beim Abbeißen die ganze Soße über das Hemd gespritzt. Man muß die Wurst nämlich vorher einschneiden, sieh her“ – sie machte es mir vor. Ihr linker Daumen stellte die Wurst dar. Dabei hielt sie den Becher mit Kaffee schief und schiefer, bis er sich über ihren Rock ergoß. Eberhard hatte uns von drüben her zugesehen, aus der Vogelschau, denn er stand und wir saßen im Gras. Nun juchzte er vor Vergnügen. Natürlich hatte er gemerkt, was Bärbel mir erzählte, und rief herüber:
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