Vermutlich wusste sie nicht, dass sie laut und deutlich redete, Franco. Ich war ziemlich perplex, denn ich glaubte anfangs, sie sei wieder bei vollem Bewusstsein, bis ich begriff, dass sie aus einem gewissen Unterbewusstsein heraus sprach, ohne es selbst zu wissen. Ihre Mutter war in den ersten Sekunden ebenso erschrocken wie ich. Sie schaute mich fragend an, ihre Blicke sprangen zwischen mir und ihrer Stella hin und her, bis sie sich voll und ganz auf ihre Tochter konzentrierte. Sie blieb in ihrem Sessel vor dem Fenster sitzen, schloss die Augen und versuchte, sich auf den Channel von Stella einzustellen. Ich traute mich nicht einmal mehr zu atmen, denn ich wurde Zeuge einer für mich sehr ungewöhnlichen Begegnung zweier Seelen.
„Stella, meine Liebste, mein anderes Ich. Ich spüre den Rhythmus deines Herzens in mir. Es ist, als gebäre ich dich in diesen Sekunden zum zweiten Mal. Ja, es ist wie eine Geburt. Du bist unendlich weit weg und doch in mir. Du entweichst mir, ohne dass ich dich verliere. Wir sind ein Ganzes und doch nicht. Ich fühle deine Seele. Ich kann sie sehen. Spiralen, leuchtende Spiralen. Wunderschöne Farben. Ich sehe die Tage, Wochen, die Monate. Jeder Tag hat eine andere Farbe. Jede Woche, jeder Monat. Die Jahre. Die Farben wiederholen sich in dieser Spirale, aber trotzdem empfinde ich Unterschiedlichkeiten. Alles klingt in mir wie ein großes Lied. Nein, eine Symphonie. Die Symphonie des Lebens. Es ist nur ein Ton, aber er schwingt in tausend verschiedenen Facetten, wird durch seine unglaubliche Vielfalt, seine Energie, zur Symphonie. Ein traumhafter Regenbogen, bestehend aus kosmischer, unfassbarer Schönheit von Musik in Form einer unendlichen Spirale. Wir sind in einem neuen Jahr des Wassermannzeitalters und alles wird gut werden. Heute muss Dienstag sein, das lichte Grün leuchtet, wie nur Dienstage leuchten. Bitte, erzähle mir, was du fühlst, was du denkst. Ich sehe dich in unendlich schönen Farben und weiß, dass ich dir helfen kann. Ich muss die Farben nur sortieren, Stella, meine Liebe.“
Stella antwortete wie in Trance:
„Mutter. Ich sehe einen Mann. Er ist hässlich und schön zugleich. Ich glaube, ich liebe ihn, obwohl ich ihn nicht kenne.“
„Wie sieht er aus, meine liebste Tochter?“
„Er hat unendlich große, dunkle, strahlende Augen. Er ist klein und zierlich, aber es geht von ihm eine ungeheure Energie aus. Rote Haare. Rote, krause Haare. Er ist schon sehr alt. Unglaublich alt. Aber er hat ganz junge Augen, ein junges Gesicht. Ist er alt? Er weiß so viel. Ich spreche ständig mit ihm. Er beschützt mich. Ich glaube, er ist sehr jung. Nein, er ist sehr alt. Eine alte Seele. Ich fühle Musik. Eine Melodie. Es ist eine Lebensmelodie. Seine Lebensmelodie. Ich werde sie aufschreiben. Hoffentlich kann ich sie festhalten. Von dem alten Mann geht Rhythmus aus. Ein wunderschöner, harter, treibender Beat. Sanft zugleich. Ich muss ihn aufnehmen. Dieser Rhythmus! Die Melodie dazu! Genial! Es wird ein Hit. Das wird DER Hit! Mutter, du bist doch bei mir?“
Dann ging durch Stellas Körper ein Zucken, wie man es erlebt, wenn ein Mensch von einem starken Stromschlag getroffen wird. Energie schien in sie einzudringen. Sie wand sich, ihr Körper versteifte sich, ihre offenen Augen fingen wild zu kreisen an, die Pupillen weiteten sich, schlossen sich zu winzigen, dunklen Kernen, wirbelten auf und nieder. Sie schluchzte erbärmlich, wie ein hilfloses Baby, schrie, zitterte, dass es mir kalt den Rücken herunterlief. Ich konnte doch nichts tun! Auch Sarah saß wie gebannt, blickte unentwegt auf ihre sich quälende Tochter. Der ganze Vorgang dauerte nur wenige Sekunden, vielleicht aber auch Minuten. Ich weiß es nicht. Dann entspannte sich Stella, ein sanftes Lächeln umfasste ihr ganzes Gesicht, überstrahlte ihren schönen Körper, der in Tau getränkt zu sein schien – die Bettdecke war längst auf den Boden gefallen und wir beide fühlten, dass sie nun glücklich war. Sie lag da wie ein Engel. Unglaublich schön, zart, mit sich und der Welt eins. In innerer und äußerer Ruhe.
Sorry, mein Freund, aber ich musste es dir sofort sagen. Entschuldige, dass dieses ‘sofort’ mit einem delay von fast dreißig Stunden zu dir kam, aber daran bist du selber schuld, wenn du dein Telefon nicht hörst.
Sie liebt dich. Hat sie gesagt.
Hey, du bist still wie ein Fisch! Hast du mich überhaupt verstanden? Sie liebt dich! Denke ich mal.«
Pause. Unendlich lange Pause.
»Danke. Ich danke dir, Jonathan. Das muss ich erst begreifen. Das wirst du verstehen. Ich bin zu geschockt durch die Ereignisse der letzten Tage und durch das, was ich hier mit meinem Freund FB erlebt habe.«
»Sag mal, Franco – stimmt was nicht mit dir? Deine Stimme klingt völlig anders. Ich glaube, dich nicht mehr zu kennen. Was ist geschehen? Freust du dich nicht?«
»Doch, Jonathan. Irgendwie freue ich mich. Aber ich stehe zur Zeit noch immer völlig neben mir. Brauchte eine Auszeit. Wir haben gerade ein Riesenproblem gebannt. Davon will ich am Telefon jetzt nicht reden. Ich werde dir davon erzählen, wenn wir auf den Bahamas sitzen und Bananen pflücken.«
»Also nie«, erwiderte Jonathan mit trauriger Stimme. »Ich dachte, du fällst aus allen Wolken und schwebst dann auf ihnen in den Siebten Himmel und geradewegs zu Stella, wenn ich dir mitteile, was sie von dir denkt, du alter junger Mann!«
»Ach, mein Freund, verstehe mich bitte nicht falsch. Ich bin nur so unendlich ausgepowert. Und ängstlich. Und vorsichtig. Wer weiß, was Stella denkt und fühlt, wenn sie aus ihrem Heilschlaf erwacht ist.« Francos Stimme war melancholisch geworden und klang in diesen Sekunden wirklich wie die eines ganz, ganz alten, weisen Mannes. So sehr, dass sich Jonathan erschrak und glaubte, er habe mit einem ihm unbekannten Wesen gesprochen.
»Bitte, Jonathan, pass weiter gut auf Stella auf. Das ist das Einzige, worum ich dich im Moment bitte. Dein Bericht hat mich zutiefst gerührt. Aber sie ist mir im Moment zugleich unendlich fremd. So weit weg. Ich kann das alles nicht begreifen. Meine Gedanken sind verwirrt. Wenn ich mich wieder gefasst habe, komme ich noch einmal nach Dresden, bevor ich zu meinen Eltern in die Toskana fliege. Ich habe es meiner Mutter versprochen und ich fühle, dass ich Kräfte auftanken muss. Das kann ich dort am besten.«
»Ich verstehe dich, Franco. Und du kannst dich auf mich verlassen. Ich ziehe hier keine Sicherheitskräfte ab, bevor wir nicht tausendprozentig sicher sind, dass Stella nichts zustoßen kann.«
Damit unterbrach Jonathan das Gespräch.
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