»Du hast ein paar ihrer Sachen mitgebracht.«
»Im Auto sind noch mehr. Den Rest habe ich von Miss Phipps entsorgen lassen.«
Sie nahm die Sachen einzeln aus der Schachtel, hielt sie hoch und begutachtete eingehend ein Frisiertischchen aus Bakelit, das mit Schmuckstücken gefüllt war. »Arme Evelyn«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, obwohl sie seiner Mutter nicht besonders nahegestanden hatte. Früher, als Evelyn noch compos mentis war, hatte Elise sich über ihre panische Angst aufgeregt, ihre schrecklichen Vorstellungen von dem, was in der Welt außerhalb ihres eigenen beschränkten Erfahrungsraums vorging. Evelyns Verlangen, Zeit mit ihnen zu verbringen, endete nach wenigen Tagen meist in aufwallendem Groll gegen ihre Schwiegertochter, ihre scheinbar unbekümmerte Haushaltsführung, ihre Unpünktlichkeit. Evelyn hatte sich auf dem Land gelangweilt, sich vor dem Fluss und den Ziegen gefürchtet. Außerdem aßen sie immer zu spät, was Verdauungsbeschwerden bei ihr auslöste.
Elise umarmte Paul und küsste seinen Hals. »Es ist so traurig. Tut mir wirklich leid, Liebling.«
»Ich wünschte, ich hätte bei ihr sein können. Irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre das gar nicht wirklich passiert.«
»Hast du sie gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Man hatte sie schon weggebracht.«
»Das ist schlimm. Du hättest sie noch mal sehen sollen.«
Nachdem sie ihn eine Weile umarmt hatte, ging sie mit dem Wasserkessel zur Spüle, füllte ihn aus dem lauten alten Wasserhahn, der quiekte und donnerte, und hob den Deckel von der Herdplatte des Rayburn.
»Ich weiß nicht, was ich mit dem ganzen Zeug anstellen soll«, sagte er.
»Keine Sorge. Darüber kannst du später nachdenken. Es ist gut, ihre Sachen um uns zu haben, als Erinnerung an sie.«
Paul trug die Schachteln nach unten in sein Arbeitszimmer. Es befand sich am anderen Ende der Küche als Elises Werkstatt und war in ein altes Nebengebäude eingebaut, das so tief in dem steilen Hang versenkt war, dass er auf halber Höhe des Fensters den abschüssigen Garten sehen konnte; auf der anderen Seite hatte er einen Blick auf den Fluss. Die Wände waren fast einen halben Meter dick; ihm gefiel das Gefühl, bei der Arbeit von Erde umgeben zu sein.
Als die Mädchen nach Hause kamen und vom Tod ihrer Nana erfuhren, waren sie kurz gedämpft und ehrfürchtig; sie weinten aufrichtige Tränen, und Becky verbarg scheu das Gesicht an der Brust ihrer Mutter. Sie war neun, zärtlich und sensibel; ihr braunes, sommersprossiges Gesicht hatte sich schon immer rasch verfinstert. Zehn Minuten später hatten die Mädchen alles vergessen und spielten vor seinem Fenster im Garten. Er sah ihre Füße und Beine, sah, wie Becky mit ihrem Springseil hüpfte und die sechsjährige Joni im Rhythmus stampfend laut sang: »Bananen in Pyjamas sind lustig anzusehen.«
Nach all den anderen organisatorischen Telefonaten, die Paul am nächsten Tag erledigen musste, wollte er Annelies anrufen, seine erste Frau. Doch bevor er dazu kam, rief sie ihn an, was ungewöhnlich war; oft sprachen sie monatelang nicht miteinander. Sie klang, als wäre sie sauer auf ihn, aber daran war er gewöhnt: Der Wettstreit zwischen hitzigem Angriff und kalter Zurückweisung war von Anfang an ihr gemeinsamer Modus gewesen, seit sie in dieser schwierigen Beziehung steckten, zwei Fremde, aneinander gebunden durch ihr Kind – seine älteste Tochter, die inzwischen fast zwanzig war. Bei ihrer Geburt war er selbst nicht viel älter gewesen.
»Wie lange ist es her, seit du Pia das letzte Mal gesehen hast?«, wollte sie wissen, sobald er den Hörer abgenommen hatte.
»Ich wollte dich auch gleich anrufen«, erwiderte er. »Es gibt Neuigkeiten. Mum ist gestern gestorben.«
Er bemühte sich, keine Genugtuung darüber zu empfinden, dass er ihrer selbstgerechten Art ein Schnippchen geschlagen hatte.
»Ach, Paul. Das ist traurig. Sehr traurig. Tut mir leid. Pia wird außer sich sein, sie hat ihre Nana geliebt.«
Paul war oft mit Pia nach Birmingham gefahren, um ihre Großmutter im Heim zu besuchen. Es war eine der Möglichkeiten, die Zeit zu füllen, die er mit seiner ältesten Tochter verbrachte, und es stimmte, sie war Evelyn offenbar aufrichtig zugetan. Sie hatte ihn überrascht; er hielt Pia nicht für die Hellste, aber sie war sehr geduldig gewesen und hatte sich nicht an den ewigen Wiederholungen der alten Frau gestört, die ihr immer wieder ergriffen die Hand gedrückt hatte.
»Soll ich mit ihr reden?«
»Sie ist nicht da. Das ist auch der Grund, warum ich dich anrufe.«
»Du meinst, sie ist unterwegs?«
»Nein. Ich meine, sie ist verschwunden. Hat ihre Sachen gepackt und weg. Nicht alles natürlich. Ihr Zimmer ist immer noch ein einziges Chaos.«
»Wohin verschwunden?«
»Keine Ahnung.«
Vor ungefähr einer Woche hatte Pia nach einem Streit mit ihrer Mutter das Haus verlassen. Es war zwecklos, Alarm zu schlagen und zur Polizei zu gehen, denn Pia hatte Annelies zweimal angerufen und ihr versichert, dass alles in Ordnung sei. Angeblich wohnte sie bei Freunden.
»Dann geht es ihr vermutlich gut. Sie ist alt genug. Sie kann gehen, wohin sie will.«
»Aber welche Freunde, Paul? Ist es zu viel verlangt, wenn ich wissen will, wo sie ist?«
Eigentlich absolvierte Pia in Greenwich ihr erstes Studienjahr, in welchen Fächern genau, wusste er nicht: Medien, Kultur, Soziologie? Als Paul vor einigen Wochen das letzte Mal in London war, hatte er sie zum Essen ausgeführt. Er versuchte sich jetzt verzweifelt daran zu erinnern, worüber sie gesprochen hatten. Stattdessen fiel ihm nur ein neuer Stahlstecker in ihrer Unterlippe ein: An diesem Stecker hatte sie immer gesaugt, wenn ihnen der Gesprächsstoff ausging, was oft der Fall war, und dabei die Oberlippe nach unten gedehnt und auf eine nervöse, unattraktive Weise daran gezogen. Er hatte versucht, einen Funken an Interesse für ihr Studium aus ihr herauszukitzeln, aber sie konterte alle seine Versuche mit derselben gehorsamen Eintönigkeit. Ihr prägnant geformter Mund mit den vollen, bleichen Lippen glich dem seinen, das wusste er: Angeblich glich Pia ihm aufs Haar, sie war groß, blond und dünn wie er, und ihre Haut neigte zu Unreinheiten und Ausschlägen wie seine als junger Mann. Im Geiste hätte sie nicht gegensätzlicher sein können als er in ihrem Alter: Er hatte sich vom kalten Feuer der Politik und neuer Ideen mitreißen lassen, sie hingegen war ängstlich und scheu, ging in der winzigen Welt ihrer Freunde und deren Marotten auf, ohne jede intellektuelle Neugier.
»Sie kommt bestimmt bald wieder«, beruhigte er Annelies. »Spätestens wenn sie merkt, dass sie ihre Wäsche selber waschen und ihr Essen selber kaufen muss.«
Zur Beerdigung kam Annelies in einem schwarzen Kostüm, das zu eng saß. Seit einiger Zeit war sie fast matronenhaft; neben ihr wirkte Elise leichtfüßig und biegsam wie ein Mädchen, obwohl sie die Ältere der beiden war. Elise hatte gesagt, schwarz trage man heute nicht mehr, und Becky und Joni erlaubt, ihre Partykleider anzuziehen; die kleinen Mädchen tollten zwischen den hässlichen Grabmälern des Krematoriums herum wie Elfen im Sonnenschein. Elise und Annelies waren nie Rivalinnen gewesen; Pauls erste Ehe war seit mehreren Jahren vorbei, als er Elise kennenlernte. Elise hatte es sich zur Aufgabe gesetzt, seine unverblümte, barsche erste Frau für sich zu gewinnen. Jetzt liehen sie sich gegenseitig Taschentücher und flüsterten sich Vertraulichkeiten zu, umarmten und berührten einander, wie es unter Frauen üblich ist. Annelies war ihm irgendwie fremd. Allmählich sah sie wie ihre Mutter aus, eine stämmige, vernünftige holländische Grundschullehrerin.
Während des lieblosen Gottesdienstes konnte Paul sich nicht auf das Geschehen konzentrieren. Der Pfarrer war ein Fremder, dem man ein paar Gemeinplätze an die Hand gegeben hatte: Evelyn hatte ihr Leben lang hart gearbeitet, die meiste Zeit in der Bäckerei in Wimbush; sie hatte sich für ihre Familie aufgeopfert; als Rentnerin war sie gern durch England und Irland gereist, und auch ins Ausland. Paul hatte keine Ahnung gehabt, als man ihn nach den liebsten Kirchenliedern seiner Mutter gefragt hatte. Sie war nie eine Kirchgängerin gewesen, auch wenn sie sich verschämt, ja fast kokett für religiöse Themen interessiert hatte. Ein paar Titel aus seiner Kindheit waren ihm eingefallen: »Auf einem grünen Hügel …« und »Ihr Pilger ….« Am Ende des Gottesdienstes wurden an einer Leiste ruckartig Gardinen um den Sarg gezogen, ehe er weggeschoben wurde.
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