Aber der Rest des Hauses ist heruntergekommen und schäbig. Das Dach hat kahle Stellen, ihm sind Ziegel ausgefallen wie Haare im Fell eines räudigen Hundes. Einige der Innenwände haben Löcher – dort werden die Balken sichtbar, die das Skelett des Hauses bilden. Das grüne Linoleum auf dem Küchenboden wirft große Blasen. Sie knistern, wenn ich drauftrete, aber selbst wenn ich draufspringe, kann ich sie nicht zum Platzen bringen.
Mein Vater treibt drei Jungs vom nahe gelegenen Architektencollege auf, die Geld brauchen und keine Angst vor etwas Sägemehl haben. Einer davon, Greg, macht sich bei meinem Vater beliebt, indem er herausfindet, wie man eine Zierleiste unter dem Hausdach anbringt, zwei Zentimeter dickes, geschwungenes Holz, das er in Form schneiden und entlang des Dachfirsts befestigen wird, bis es aussieht wie Zuckerguss. Greg verfolgt eine Idee. Er wird das Haus in einem Stil renovieren, den man Carpenter Gothic nennt, mit handgeschnitzten Akzenten überall.
Mein Vater hat hochfliegende Träume schon immer geliebt, und plötzlich ist Greg der Anführer der Truppe. Greg ist schlaksig und braun gebrannt, und während die Sommerwochen verstreichen, werden seine lockigen blonden Haare immer heller. Mein Zwillingsbruder hatte als Kleinkind solche Locken. Inzwischen ist Andys Haar dunkel geworden, er zieht einen Bürstenschnitt vor, und wenn er am Strand sein Hemd auszieht, wird eine Narbe sichtbar, die sich über seinen ganzen Bauch zieht und die ich irgendwie verstehe, irgendwie aber auch nicht. Er war krank, als wir zur Welt kamen; manchmal ist er immer noch krank. Obwohl wir noch nicht einmal ausgepackt haben, haben meine Eltern oben im Schrank schon eine blaue Reisetasche bereitgestellt für den Fall, dass sie ihn ins Krankenhaus fahren müssen – aus Gründen, die ich nicht kenne, aber ich weiß, dass ich besser nicht danach frage. Mit dem Bürstenhaarschnitt, der die feinen Konturen seines Gesichts betont, den Rippen, die über der Narbe hervorstehen, und den weißen Turnschuhen sieht er aus wie ein adoptiertes Flüchtlingskind aus einem vergessenen Krieg.
Aber die Architektenjungs sind schön anzusehen. Greg klettert bis auf den Dachgiebel hinauf. Seine Freunde erklimmen lange Leitern hoch über die Fenster hinaus. Sie durchschneiden die Luft wie Delfine das Wasser, und die Zollstöcke und Schraubenschlüssel, die von den Gürteln ihrer abgeschnittenen Hosen baumeln, bremsen sie nicht in ihren Bewegungen. Die Werkzeuge hängen an ihnen, als könnten sie, ebenso wie ich, nicht anders, als den Jungs zu folgen. An den Abenden sehe ich ihnen, umgeben vom Zirpen der Grillen, vom Rasen aus zu. Manchmal, wenn sie länger bleiben, bohrt Greg Löcher in den Deckel einer Flasche, und wenn ich ihm die Glühwürmchen bringe, die ich gefangen habe, lobt er mich. »Das ist ein Hübscher«, sagt er. »Ist sein Licht nicht wunderbar?« Ich liebe das Leuchten der Glühwürmchen so sehr, dass ich die Flasche einmal auf meinem Nachttisch behalte, anstatt meine Beute wieder freizulassen. Aber am Morgen sind die Glühwürmchen nichts als Käfer; sie leuchten nicht.
Eines Tages überreicht mein Vater Greg einen Schlüsselbund und klopft ihm auf die Schulter. Sie überprüfen Listen auf den Klemmbrettern, die die Jungs plötzlich dabeihaben, und dann nicken sie alle und schütteln sich in der geschotterten Einfahrt die Hände. Meine Eltern packen uns Kinder für einen Besuch bei den Verwandten meiner Mutter in Frankreich ein. Wenn wir zurückkommen, werden wir ein neues Zuhause haben. Das Haus wird von seiner Vergangenheit befreit sein.
Es gibt nur eine größere Straße, die nach Tenafly führt. Sie beginnt auf der anderen Seite der Stadt und schlängelt sich in gemächlichen Windungen einen großen Hügel hinab. Dort sind die Straßenränder begrünt und lassen den Bäumen daneben Platz, sich gähnend auszustrecken. Jenseits der Baumkronen breiten sich große Anwesen mit sorgfältig gepflegten Gärten, säulenbestückten weißen Häusern und schmiedeeisernen Toren aus. Winzige Steinbrücken führen über künstlich angelegte Bäche.
Die Straße verengt sich. Das Gebäude der ehemaligen High School beherbergt jetzt ein Bestattungsunternehmen, die Klassenzimmer sind zu Schauräumen geworden. Daneben ist die katholische Kirche. Direkt dahinter liegt eine alte Bahntrasse. Die Züge sind schon Jahrzehnte, bevor wir hierhergezogen sind, nicht mehr durch die Stadt gefahren; zu dem Zeitpunkt, als ich meinen Collegeabschluss mache, werde ich die Metamorphose des einstigen Bahnhofs zu einem Zeitungsladen, dann zu einem Frisör, dann zu einem Café, in dem Sandwiches für zehn und Kaffee für vier Dollar serviert werden, miterlebt haben. Aber jetzt als Kind kann ich nur den Atem anhalten, als die Autoreifen kurz an den Schienen hängen bleiben. Dann berühre ich mit dem Finger das feste Glas der Fensterscheibe, damit die Geister keine Lücke finden in meiner Verbindung zur Welt, keinen Weg, um in sie einzudringen.
Die Schienen lassen das Auto los, und von hier ab verändert sich das Gesicht der Stadt, wird enger. Ein einsames Apartmenthaus mit winzigen Wohnungen, unpassend für einen Ort, der so offensichtlich für Familien gedacht ist. Ein einzelner Magnolienbaum steht dort auf dem Rasen, und seine blassen, hängenden Blüten wirken im Kontrast zu den Eichen und Ulmen des Nordostens exotisch und wundervoll. Dann werden die Grundstücke kleiner, und zwischen die Häuser passt nur noch eine Auffahrt. Ein zweiter Hügel kommt in Sicht, nicht einmal halb so hoch wie der erste. Auf seinem Kamm liegt unser großes viktorianisches Haus. Jenseits davon senkt sich die Straße hinab in eine andere Stadt – eine Stadt, in der Verbrechen verübt werden, die es bei uns nicht gibt, und mit Schulstatistiken, die wir einander wie Warnungen zuflüstern.
3
Louisiana, 1992
Die Telefonleitung im Haus ihres Bruders ist dauernd besetzt, es hört nicht auf mit dem ständigen Piep-Piep-Piep. Lorilei ist müde. Sie will nicht den ganzen Weg bis zu seinem Haus laufen. Richard hat einen weißen Zaun um sein Grundstück aufgestellt, als wolle er sich von den anderen abgrenzen, die nicht all das haben, was er besitzt. Von Häusern wie dem, das Lorilei gemietet hat und für das sie nicht einmal die Stromrechnung bezahlen kann. Der Zaun geht ihr gegen den Strich. Das Tor befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, und um zur Tür zu kommen, muss sie außen herumlaufen, vorbei an der schmucken Einfahrt und den glänzenden weißen Pfosten und dem Spielzeug und den Fahrrädern seiner Kinder. Aber es hilft nichts, Jeremy ist verschwunden, und so dankt sie dem Mann in dem weißen Haus dafür, dass sie sein Telefon benutzen durfte, zieht den Reißverschluss ihres Kapuzenshirts zu und geht los. Ein kleiner Gehsteig führt zu Richards Haus, aber neben der Straße steht das Unkraut, und die Abflussrinne ist nichts als eine Furche im Schmutz. Lorilei, die neunundzwanzig und stämmig ist, auch wenn man ihr die Schwangerschaft noch nicht ansieht, vergräbt ihre Hände in den Taschen ihrer Jeans, um sie warmzuhalten, und bewegt sich mit gesenktem Kopf vorwärts. Ihre dünnen Halbschuhe, die im Februarmatsch stecken bleiben, sind nicht zum Laufen gedacht. Es hätte ein geruhsamer Abend werden sollen, nur mit Melissa und dem Baby.
Die Sonne gießt orangefarbene und rote Strahlen über dem Horizont aus. Es ist kurz vor sechs Uhr abends, und die Straße wirkt gespenstisch ruhig. Haus um Haus zieht mit heruntergelassenen Rollläden an ihr vorbei, wie fest zusammengepresste Lippen sehen sie aus. Dahinter versammeln sich gerade Familien zum Abendessen. In einem Vorgarten liegt ein umgekipptes Kunststoffdreirad, dessen Pedale in die Luft ragen, als wollten sie jeden Moment ins Nirgendwo losstrampeln. Lorilei hat Jeremy das Dreiradfahren beigebracht, als er drei Jahre alt war. Die Stadtzeitung veröffentlichte damals ein Bild von ihnen beiden, wie sie in die Kamera grinsen, ihre Hand auf seinen kleinen Schultern. Lorilei Guillory und ihr Sohn Jeremy Guillory. Jeder in der Stadt wusste, dass das ihr Mädchenname war. Dass es da keinen Mann gab.
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