Ich habe jetzt mehr als zehn Jahre mit seiner Geschichte verbracht, einer Geschichte, auf die ich, wenn die Dinge nur ein wenig anders verlaufen wären, niemals gestoßen wäre. Ich habe das Transkript seines Geständnisses öfter gelesen, als ich zählen kann, ebenso wie die Protokolle seiner anderen Geständnisse. Ich kenne seine Worte besser als Worte, die ich selbst geschrieben habe. Ich habe mich von den Protokollen aus zurückgearbeitet, habe die Orte in Louisiana besucht, an denen sich sein Leben abspielte, und auf diese Weise habe ich seine Mutter in meiner Vorstellung zum Leben erweckt, seine Schwestern, die Mutter des kleinen Jungen, all die Charaktere aus der Vergangenheit. Und ich bin die lange, einsame Straße von New Orleans zum Staatsgefängnis von Louisiana gefahren, das den Namen Angola trägt. Ich habe diesem Mann, diesem Mörder, an einem Besuchstisch gegenübergesessen und in dieselben Augen geblickt, die in diesem Video zu sehen sind.
Dieses Band hat mich dazu gebracht, alles auf den Prüfstand zu stellen, was ich je geglaubt habe – nicht nur über das Rechtswesen, sondern auch über meine Familie und meine Vergangenheit. Vielleicht hätte ich mir wünschen können, es nie gesehen zu haben. Ich hätte mir wünschen können, mein Leben wäre geblieben, wie es vorher war, in einer einfacheren Zeit.
Sie schiebt die Kassette in den Videorekorder und tritt einen Schritt zurück. Der Bildschirm des alten Röhrenfernsehers flimmert. Langsam wird ein sitzender Mann sichtbar. Blasse Haut, eckiges Kinn, Segelohren. Dicke, runde Brillengläser. Ein orangefarbener Jogginganzug. Hände in Handschellen auf dem Schoß.
»Wie lautet Ihr Name?«, fragt eine tiefe Stimme aus dem Off.
»Ricky Langley«, antwortet der Mann.
Erster Teil: Das Verbrechen
1
Louisiana, 1992
Der Junge trägt kurze Hosen, deren Farbe an die Seen in Louisiana erinnert. Später wird der Polizeibericht die Farbe als »Blau« verzeichnen, aber in allen Beschreibungen, die sie gibt, wird seine Mutter darauf bestehen, sie »Aquamarin« oder »Blaugrün« zu nennen. Seine Füße stecken in schlammverkrusteten Wanderschuhen, wie jeder Junge in diesem Teil des Staates sie hat, ideal, um darin in den Wäldern zu spielen. Eine kleine Faust umschließt den Griff eines Luftgewehrs, das halb so groß ist wie er selbst. Es ist eine Waffe der Marke Daisy mit einem langen, braunen Plastiklauf, den der Junge poliert, bis er glänzt wie echtes Metall. Als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter ist Jeremy Guillory daran gewöhnt, häufig umzuziehen und in fremden Schlafzimmern zu übernachten. Die Freunde seiner Mutter leben alle in gemieteten Häusern entlang derselben Sackgasse, die der Eigentümer »Watson Road« nennt, wann immer er die Miete erhöhen will, die aber in Wirklichkeit keinen Namen hat. Selbst die Polizisten der örtlichen Polizeidirektion werden später nachfragen müssen, um den Weg dorthin zu finden. Siedler aus Iowa benannten die Siedlung einst nach ihrem Heimatstaat, aber da sie einen Neubeginn suchten, sprachen sie den Namen »Io-way« aus, obwohl sie die ursprüngliche Schreibweise beibehielten. Diese Stadt ist schon immer ein Ort gewesen, an den Leute für einen Neuanfang kommen – und zugleich ein Ort, an dem sie es nie so ganz schaffen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hier also schlüpfen der Junge und die Mutter bei jedem unter, der in der Lage ist, die monatliche Stromrechnung zu bezahlen, und der dafür sorgt, dass das Gas im nächsten Monat nicht abgestellt wird. Wo auch immer der Junge landet, hat er sein Luftgewehr dabei. Für ihn ist es sein größter Schatz.
Es ist die erste Februarwoche. Die Blätter der Bäume sind grün und üppig, aber bei Nacht sinken die Temperaturen empfindlich. Lorilei, Jeremys Mutter, arbeitet nicht. Sie hat ein Haus nur für sie beide gemietet – ihr erstes –, aber der Strom wurde ihnen abgestellt. Ihr Bruder Richard lebt in einem weitläufigen Eigenheim oben auf dem Hügel, aber sie ist nicht bei ihm untergekommen. Stattdessen wohnen Lorilei und Jeremy zurzeit bei Lorileis Freundin Melissa, deren Partner Michael und ihrem gemeinsamen Baby. Das Kind ist zwei, alt genug, dass es mit dem Jungen spielen will und brüllt, wenn es seinen Willen nicht bekommt.
Heute schreit das Baby die ganze Zeit. Jeremy ist sechs Jahre alt und gerade aus dem gelben Bus ausgestiegen, der ihn von der Vorschule heimgebracht hat. Er schlingt seinen Nachmittagsimbiss hinunter und träumt sich weg von dem Lärm, träumt von den Wäldern und dem Spaß, den er dort haben könnte.
Am Ende der Straße steht ein heruntergekommenes weißes Haus, dahinter liegt ein Fleckchen Wald. Die Wälder hier sind dichte, feuchte Laubwälder, in denen verrottende Blätter sich mit Erde zu einem weichen Untergrund verbinden, der unter den Füßen des Jungen nachgibt. Und auch wenn dieser Wald nur sehr klein ist, so ist er mit seiner Schlucht, die einer Narbe im Erdreich gleicht und sich perfekt für Kriegsspiele oder als Versteck eignet, doch Jeremys absoluter Lieblingsspielplatz.
Jeremy bittet seine Mutter um das Luftgewehr. Sie nimmt es von dem Regal herunter, auf dem sie es vor dem Baby in Sicherheit gebracht hat, und reicht es ihm. Er läuft durch die Tür nach draußen. Zwei Kinder, die ungefähr im gleichen Alter sind, ein Junge namens Joey und ein Mädchen namens June, wohnen in dem weißen Haus am Waldrand, und obwohl Jeremy auch gern allein auf Entdeckungsreisen geht, macht es doch mehr Spaß, wenn Joey dabei ist. Er geht zur Tür und klopft an.
Ein Mann öffnet ihm. Er trägt eine Brille mit dicken Gläsern. Er hat einen kleinen Kopf und große Segelohren. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren und einem Gewicht von nur siebzig Kilo ist Ricky Joseph Langley schmächtig für einen erwachsenen Mann – aber immer noch viel größer als der Junge. Auch er ist hier in der Stadt aufgewachsen. Jetzt wohnt er zur Untermiete bei Joeys und Junes Eltern, die er kennenlernte, als er begann, bei der Tankstelle am Highway zu arbeiten, wo auch ihre Mutter Pearl beschäftigt ist. In der Theorie bezahlt er Pearl fünfzig Dollar pro Woche für das Zimmer, aber das kann er sich nie leisten und gleicht es mit Babysitterdiensten aus. Erst vor wenigen Tagen hat er auf Joey und Jeremy aufgepasst und den beiden die Seife gebracht, als sie in der Badewanne saßen.
»Ist Joey da?«, fragt Jeremy.
»Nein«, sagt Ricky. »Die sind angeln gegangen.« Das entspricht der Wahrheit. Vor gerade mal zwanzig Minuten haben Joeys Vater und der Junge die Ruder eingepackt und sind zum See hinausgefahren. Sie werden den ganzen Nachmittag fortbleiben. »Sie sind bald wieder da«, sagt Ricky. »Du kannst reinkommen und hier warten, wenn du willst.«
Jeremy spielt jede Woche in dem Haus. Er kennt Ricky. Trotzdem zögert er.
»Warum kommst du nicht rein?«, fragt Ricky noch mal. Er öffnet die Tür weiter und wendet sich ab. Jeremy tritt über die Türschwelle, lehnt vorsichtig sein Luftgewehr gegen eine Wand in der Nähe des Eingangs und steigt die Stufen zu Joeys Schlafzimmer hinauf. Er setzt sich im Schneidersitz auf den Boden und beginnt zu spielen.
Ricky folgt ihm die Treppe hinauf. Er will nur zuschauen, wie Jeremy spielt – das wird er später so sagen, er wird es schwören. Aber das Zuschauen verändert etwas in ihm, und von diesem Moment an ist es, als befände er sich in einem Traum. Er stellt sich hinter Jeremy und schlingt ihm einen Unterarm um den Hals, hebt ihn hoch. Jeremy zappelt so heftig, dass seine Schuhe ihm von den Füßen fallen. Ricky drückt zu.
Jeremy hört auf zu atmen.
Vielleicht berührt Ricky ihn jetzt; vielleicht kann er sich jetzt eingestehen, was er schon die ganze Zeit tun wollte, seitdem er Jeremy in der Badewanne gesehen hat. Vielleicht tut er es auch nicht. Trotz allem, was danach kommt, den drei Gerichtsverfahren und den drei unterschiedlichen auf Video aufgenommenen Geständnissen, den DNA-Tests, den Bluttests, den Untersuchungen der Körperflüssigkeiten, dem psychiatrischen Gutachten und all den hochheiligen Eiden, wird niemand außer Ricky jemals die ganze Wahrheit kennen.
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