Allmählich legt sich der Staub. Tag für Tag wird es nun etwas gemütlicher auf meinem Bahnhof, ich habe im DB-Shop eine passende Uhr gekauft, dann kann man einfach sagen: »Das ist Stil, alles Absicht, original Schleswig-Holsteiner Bahnhofs-Chic.« Wenn ich das selbstbewusst genug vortrage, setze ich vielleicht einen neuen Trend.
Die Konten sind leer, aber bald ist die Renovierung geschafft.
Mit ein bisschen Glück sieht’s am Ende vielleicht fast so schön aus wie vorher.
»Well, he was Thailand based
She was an Airforce wife
He used to fly weekends
It was the easy life …«
1981. Meine Welt war so quadratisch wie die Cover der LPs, die ich im Laden gegenüber für lang gespartes Taschengeld erstand. Nach der Single von »Cambodia« kaufte ich die LP »Select«, auf deren Cover die sagenhaft schöne wilde Kim zu sehen war, fortan das Idol meiner frühen Jugend: Kim Wilde. So wollte ich aussehen, so cool, so schön, so zerzaust-feminin.
Es brauchte noch ein wenig Anlauf, um mich dann zusammen mit meinen Freundinnen Tessa und Kirsten auf den Weg zum Friseursalon zu begeben. Salon Vera am Hindenburgdamm, zwischen Butter Lindner und Kartoffel Krohn . Ich hätte nachdenklich werden sollen. Aber es war halt der einzige Friseur, den wir kannten, weil er auf unserm täglichen Weg zur Grundschule lag.
Wild entschlossen, die LP unter dem Arm, betrat ich den Laden und hielt einer mittelblonden, mittelalten und nunmehr mittelmäßig verwirrten Dame mit Schere und Kamm das Cover unter die Nase: »Das will ich. Können Sie das?«
Sie sagte nicht Ja, sie murmelte irgendwas, aber sie sagte auch nicht Nein. So setzte ich mich.
Ich mache es kurz: Sie machte es kurz.
Ich wollte Kim Wilde und ging als Lady Di nach Hause. Ab waren die langen Haare, mich zierte eine 1A-Seitenscheitel-Föhnfrisur.
Ich weiß nicht, was am schlimmsten war: die händeklatschende Begeisterung meiner Mutter über das blonde Prinzesschen, das da mit gesenktem Haupt im Treppenhaus erschien (ich weiß noch, dass sie kurz hinter mich schaute, vielleicht, ob Kirsten dabei war, vielleicht suchte sie aber auch die Schleppe) … oder der Satz meines Vaters: »Na, das ham se ja ganz ordentlich geschnitten, Mädchen!« … oder die tröstenden Worte meiner sehr mitleidig dreinblickenden Freundinnen, die vergeblich versuchten, mit Haargel etwas Unordnung auf meinem Kopf anzurichten.
Die Unordnung auf dem Kopf, das Stachelig-Fransige, es hätte so gut zu den Gedanken darunter gepasst. Diese blieben einstweilen unter einem akkurat geföhnten Pony verborgen.
Cat Stevens kommt mir in den Sinn: »First cut is the deepest.«
Vielleicht war der auch mal beim falschen Friseur.
Sehnsucht nach Rauchzeichen
Ich stehe in der Küche. Mein Induktionsherd hat sich ausgeschaltet, weil er mich vor irgendeiner Gefahr beschützen will, die ich nicht sehe. Die Nudeln sind noch jenseits von al dente, ich habe Hunger, ein Warnsignal blinkt, und ich finde die Bedienungsanleitung nicht.
Im Radio reden sie darüber, wie man Organe mit 3D-Druckern herstellen kann.
Und ich habe es heute Morgen nicht mal geschafft, die Verteilerliste für die Lesebühne in Outlook zu importieren. – Wann ist mein Leben so kompliziert geworden?
Mittlerweile kann ich die Aussteiger verstehen, die ihre Handys verschenken, in abgelegene Hütten ziehen und ihr Gemüse selbst anbauen.
Es ist so weit, dass ich mich nach offenem Feuer sehne, ehrlichem Holz.
All die Herausforderungen des Alltags – sie sind mir zu komplex. Ich bin studierte Sozialarbeiterin, aber wenn ich über der Vielzahl von Möglichkeiten der Energieversorgung, der Versicherung, Altersvorsorge und Telefontarife sitze und mir obendrein all diese PINs und PUKs und IBANs und BICs merken soll, ganz ehrlich: Ich möchte mir manchmal selbst einen Betreuer bestellen.
Ständig ist man mit Informationsverarbeitung und Entscheidungen beschäftigt. Schon vor dem Deoregal im Supermarkt geht es los, überall geht es hier um Confidence und Protection, um Zuverlässigkeit und Diskretion. Meine Güte! Ich will die Dinger benutzen und nicht einstellen.
Und wenn ich mit dem Einkauf durch bin, bin ich so durch, dass ich an der Kasse stehe und mit meinem BVG-Ticket bezahlen will oder statt der PIN die Summe eingebe, die ich bezahlen soll.
Neben all dem Was und Wieviel schwebt ja auch immer die große Frage des Warum über meinem Kopf.
Warum gibt es Zahnbürsten mit Bluetooth?
Warum heißt ausgerechnet das alkoholfreie Bier Beck’s Blue?
Überhaupt: Namensgebung für Produkte …
Ein älterer Mann saß neulich in einem E-Rollstuhl neben mir. Der E-Rolli kam aus der Serie »Quickie«, das stand in fetten Lettern auf der Rückenlehne. Ich meine: »In Würde altern« wird dir da nicht leicht gemacht, oder? Mit der Logik kannst du auch gleich noch ’ne Datingplattform für Senioren erfinden und sie Alttours nennen. Oder Retropopp . Doch ich schweife ab.
Ständig musst du dich also orientieren und entscheiden. Warst du früher krank, bist du zum Arzt gegangen. Heute gibt es derart viele Fachrichtungen, dass du über der Entscheidung, ob du jetzt zum Orthopäden, Chiropraktiker, Psychotherapeuten oder Heilpraktiker gehst, so alt geworden bist, dass eh nur noch der Geriater infrage kommt.
Beim Abendbrot sind meine Söhne und ich neulich beim Thema Akupunktur gelandet. Eine Freundin hatte mir von ihren Erfolgen im Kampf gegen den ewigen Heißhunger auf Süßes berichtet. Da ich ein Kind habe, das meine Liebe zum Essen teilt und morgens schon mal Sätze sagt wie »Ich spüre die Macht in mir. Es könnte auch Hunger sein …«, flocht ich das Thema unauffällig ein. Ich erzählte den Kids von den Grundannahmen der Akupunktur, wir diskutierten das Für und Wider alternativer Behandlungsmethoden und hatten ein richtig interessantes Gespräch. Dachte ich. Bis mein Jüngster fragte: »Mum … wann gehen wir mich denn nun gegen Döner impfen?«
Nichts begriffen, denkt man.
Und andererseits: Wenn das seine Möglichkeit ist, die Komplexität der Welt auf das eigene Leben herunterzubrechen – sei’s drum! Vielleicht ist das das Geheimnis der Informationsverarbeitung in Zeiten der Reizüberflutung: das Übersetzen in die eigene Sprache und die eigene Lebenswelt. Nur speichern, was man begreift. Den Dingen eigene Namen geben, die man versteht. Wohlan denn.
Die Sprache und das Sprachverständnis sind in ständigem Wandel. Ich verstehe sie nicht immer, die Generation nach uns, aber umgekehrt ist es ja nicht anders. Als mein älterer Sohn, der Basketballer ist, sich mal einen Morgen nicht richtig fit fühlte, fragte er ganz ernsthaft aus der Dusche heraus, ob wir noch »das Shampoo für die Sprungkraft« hätten, die bräuchte er heute ganz dringend.
Mein Modekatalog warb mal für Prämien mit der Überschrift: »Jetzt Freundin gewinnen!« Ein begeisterter 13-Jähriger fragte: »Okay! Was muss ich da machen, um eine Freundin zu gewinnen?«
Es kann vorkommen, dass sie »Karfreitag« mit »C« schreiben und, wenn ich ein Gedicht rezitiere, Dinge sagen wie: »Das ist doch ein schöner Spruch fürs Amnesiealbum.«
Zitiere ich aus einem Louis-de-Funès-Film und amüsiere mich köstlich, flüstert der eine tröstend zum andern: »Den Humor musst du nicht verstehen. Das war früher, als die Filme noch in Wände geritzt wurden.«
Genau. Damals, als die Menschen in Höhlen lebten und ihre Döner selbst erlegten.
Die Nudeln derweil sind immer noch jenseits von al dente.
Ich geh mal Holz holen.
Frühling, ein Café in der Gutsmuthstraße. Kurz überlege ich, ob ich mir das Frühstück »Crystal Mett« gönne, das aus einem Kristallweizen und einem Mettbrötchen besteht, bestelle mir dann aber doch nur einen Kaffee. Die nette junge Frau hinterm Tresen sagt: »Du hast die Nummer zwölf, alle weiteren Bestellungen dann bitte auf die Zwölf.«
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