Als ich vor einigen Jahren im Krankenhaussozialdienst gearbeitet habe, gehörte auch die Beratung alkoholkranker Patienten zu meinen täglichen Aufgaben. Ich bin froh, dass das heute nicht mehr so ist – mit dem Gesicht, das ich gerade habe, würde mich jeder Klient auslachen. Wir würden uns in stummer Eintracht auf die Schultern klopfen und zusammen ein Konterbier zischen.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich voller Freude an die Szene, als die Tochter einer alkoholkranken Patientin mich anrief, damals in meinem Büro im Klinikum Martin Luther. Sie meldete sich am Telefon mit dem großartigen Satz: »Guten Tag, mein Name ist Schmitz, und meine Mutter liegt seit gestern bei Ihnen im Luther und Wegner.«
Manchmal braucht es gar nicht viele Worte.
Etwas später am selben Morgen stehe ich mit einem sehr bitteren Kaffee auf dem S-Bahnhof Zoo. Kurz denke ich darüber nach, den Becher zurückzutragen und dem freundlichen Herrn am Tresen zu erklären, dass »Coffee to go« übersetzt nicht »Kaffee zum Weglaufen« bedeutet. Aber dann kommt die S3, und jeder, der öfter S-Bahn fährt, weiß, da sollte man nicht zögern, die kommt vielleicht so schnell nicht wieder, man kann es nie wissen. Irgendeine Weiche ist ja immer gestört. Oder ein Signal. Oder es ist wieder Wetter. Das Wort »Zugempfindlichkeit« jedenfalls kriegt da noch mal eine ganz andere Dimension.
Und wofür das alles?
Als ich eine Stunde später an meinem Spandauer Schreibtisch sitze, stelle ich fest, dass ich heute leider nicht besonders leistungsfähig bin. Mein Kater schnurrt, mein Kopf möchte auf irgendwas Weiches, meine Augen möchten das Schild »Geschlossen« an ihre Ringe hängen. Ständig verlese und verspreche ich mich. In einer Sitzung warne ich in meinem Beitrag vor einer zickenden Zeitbombe, das ist mir schon ein bisschen peinlich. Andererseits – wenn ich mal ein Buch über meine Schwiegermutter schreibe: Der Titel würde mir schon gefallen.
In einer Mail möchte ich nun eine Wegbeschreibung an eine Frau versenden, die morgen zum Bewerbungsgespräch kommt. Glücklicherweise lese ich noch mal Korrektur. Manchmal spielt es schon eine Rolle für die Bedeutung eines Satzes, an welcher Stelle man das Leerzeichen setzt. Ich wollte schreiben: »Wenn Sie durch den Haupteingang kommen und geradeaus laufen …« Was ich stattdessen geschrieben habe, war: »Wenn Sie durch den Haupteingang kommen und gerade auslaufen …« Ich glaube, ich sollte heute ein bisschen früher Schluss machen.
Auf dem Heimweg hole ich im Supermarkt noch etwas Zwieback. Ich passiere das Regal mit Wein und Sekt sehr schnell und fast ohne hinzugucken. Im Vorbeigehen lese ich auf einem Etikett »Borderline«, bei nochmaligem Hinsehen ist es dann aber doch »Bardolino«. Ich muss ins Bett.
Zu Hause angekommen, fix und fertig mit Tee und Wärmflasche endlich wieder unter der weichen Decke, denke ich, ich könnte doch zum Einschlafen noch was lesen. Eine Freundin hat mir ein Buch geschenkt mit dem Titel »Weil Du es wert bin«. Seitlich aufgedruckt entdecke ich erst jetzt den Stempel »Preisreduziertes Mängelexemplar«. Das nenn ich mal stimmig.
Ich glaube, ich mache jetzt einfach mal die Augen zu.
Ein Sommerabend oder: Die Krux mit dem Kontext
Schon als ich zur Tür reinkomme, spüre ich seinen Blick auf mir. Kein Zweifel, der junge Mann sieht wirklich attraktiv aus.
Ein warmer Sommerabend, ein Hauch von Gewitter liegt über der Stadt, ein Luftzug trägt den Duft von Lindenblüten und heißem Asphalt in den Raum. Ich suche mir einen Platz und lächele in mich hinein, denn mein Gefühl hat mich nicht getrogen: Kaum dass ich sitze, kommt er rüber, schenkt mir einen freundlichen Blick aus seinen großen dunklen Augen und fragt mich nach meiner Telefonnummer. Ich zögere nur kurz, dann greife ich zum Stift.
Das ist mir wirklich lange nicht passiert, denke ich und genieße den Augenblick.
Für einen kleinen Moment blende ich aus, dass dies eine Pizzeria ist und er der Kellner, der aufgrund der geltenden Hygieneschutzregeln meine Daten erfassen muss, und stelle mir vor, es wäre der Beginn einer interessanteren Geschichte.
O tempora, o mores. Die Dinge sind im Wandel, die Pandemie bringt manche Seltsamkeit mit sich, und das Leben im Spannungsfeld zwischen flügge werdenden Kindern und abbauenden Eltern birgt so einige Herausforderungen.
Gestern habe ich meinen Vater im Pflegeheim besucht, wir saßen im Garten, eine Bewohnerin von seiner Etage kam mit ihrem Rollator vorbeigeschoben und sagte kokett: »Na, Herr Riedel, da haben Sie ja heute richtig adretten Damenbesuch!«
»Ist nur meine Tochter«, erwiderte er und winkte ab. Ich bemühte mich, das »nur« zu überhören und mich stattdessen mit dem Wort »adrett« als eine Art Kompliment anzufreunden, da fügte die Frau staunend hinzu: »Ach, Ihre Tochter? Na, das hätte ich Ihnen ja gar nicht zugetraut! Dass Sie eine sooo alte Tochter haben!«
Wie reagiert man angemessen auf so einen Satz?
Ich versuchte schlicht, die Fassung zu bewahren, mein Vater freute sich und fühlte sich geschmeichelt.
Weniger subtil ist da meine Schwiegermutter. »Lass dich mal ansehen!«, sagte sie beim letzten Besuch. »Hast du Zahnschmerzen? Oder hast du einfach nur so’n dickes Gesicht bekommen?«
Wenn ich auf meinem Handy ein Wort tippe, das mit »sch« beginnt, schlägt es mir ganz von alleine die Wörter »schwierig« und »Schwiegermutter« vor.
Mein Handy kennt mein Leben.
Manchmal sind es ja nur Kleinigkeiten.
Keiner duzt einen mehr zum Beispiel. Wenn mich mal jemand auf der Straße nach Feuer fragt, dann nur noch mit einem höflichen »Sie« davor.
Klar, dass mich die jungen Hüpfer siezen, gibt ja bestimmt auch Leute, die da Wert drauf legen. Vielleicht bin ich da etwas sonderbar. Als ich das neulich einer Freundin zu erklären versuchte, hörte sie mir sehr aufmerksam zu, schaute nachdenklich – und schlug mir dann fröhlich vor, ich könne ja einfach mal wieder zu IKEA gehen, wenn mir das Duzen fehle.
Manchmal ist geteiltes Leid nicht halbes Leid.
Manchmal macht geteiltes Leid auch sehr einsam.
Aber okay, vielleicht bin ich ja auch das Problem und einfach nicht aufgeschlossen genug für neue Lösungsansätze?
Geh ich halt zum Duzen zu IKEA.
Imaginiere ich halt den Flirt mit dem Kellner.
Und wenn ich will, dass mal wieder jemand »Ausziehen!« ruft, gehe ich an der Ostsee an den FKK-Strand. Mit Textil. Habt ihr das mal probiert? Das ist nichts für zarte Gemüter, da kann man sich ganz schön was anhören. Die nackte Wut, sozusagen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Da fällt mir ein Dialog ein, den ich neulich beim Stöbern in einer kleinen Boutique mit anhörte. Die Umkleidekabine war besetzt, der Vorhang zugezogen, plötzlich hörte ich eine Männerstimme flüstern: »O Gott, zieh das sofort aus …«
Waren da wirklich zwei Leute in der Kabine? Jetzt war ich ja doch neugierig. Ein Buch fiel mir ein, das ich irgendwann mal in der Hand hatte, also für einen Freund, es hieß »How to Have Sex in Public Without Being Noticed«. Doch meine Fantasien wurden jäh ausgebremst, als die Männerstimme nun etwas lauter und flehender sagte: »O Gott, bitte, zieh das bitte aus! Da drin siehst du aus wie deine Mutter.«
Dieser verflixte Kontext kann einem manchmal ganz schön den Spaß versauen.
Bericht von der Baustelle
Als ich in der 7. Klasse war, hieß mein Klassenlehrer Herr Schall. Neben Mathe und Physik unterrichtete er zuweilen auch Lebensweisheiten, außerdem sammelte er in einem kleinen Extraheft die schönsten Ausreden der Schüler fürs Zuspätkommen. Ich erinnere mich an Jens mit: »Ich bin mit der Kutsche gekommen, und unterwegs ist das Pferd gestorben.« Die habe ich später mal im Büro versucht, da haben mich alle nur komisch angeguckt.
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