Widerwillig griff Dorsey ein weiteres Mal in seine vor Schmutz starrende Jacke und hielt einen Haarkamm aus Schildpatt in der schwieligen Hand, der in der Mitte durchgebrochen war.
„Wo ist die andere Hälfte?“
„War nich' da.“
Edwards hob eine Augenbraue.
„Nein, ehrlich. Die hadde nich' mal Schmuck. Das da war alles. Hätt's fast überseh'n.“
„Na schön.“
Edwards betrachtete den Kamm. Er hatte die Form eines Schmetterlings, der in den Farben des Regenbogens schimmerte. Ein paar chinesische Schriftzeichen aus irgendeinem weißen Material waren in den Kamm eingelegt. Dem Schmetterling war ein Flügel abgebrochen. Ein paar Zacken fehlten. Er steckte ihn ein und widmete sich dann der Haarlocke und dem Stück Stoff. „Die Haarsträhne ist ordentlich verknotet. Sehr weicher Stoff. Rosenmuster.“
War das vielleicht Seide? Er konnte nur raten. Er hatte noch nie Seide in der Hand gehalten. Dann hielt er es sich an die Nase und atmete tief ein. Es stank fürchterlich nach Themsewasser, der Kloake Londons, und er roch den fauligen Gestank des Todes, der jeder Leiche anhaftete. Hinzu kamen die Ausdünstungen eines ungewaschenen Körpers und einer noch seltener gewaschenen Hose. Aber da war noch etwas anders? Ein Hauch Jasmin.
„So wie das hier verschnürt ist, hat sich der Mörder große Mühe gegeben. Die Schleife um die Haarlocke ist perfekt gebunden. Das hat er geplant. Sicher hat er seine Opfer vorher beobachtet.“
Edwards offen ausgesprochener Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als Aeglewood von einem heftigen Niesanfall heimgesucht wurde.
„Entschuldigung. Jedes Jahr das Gleiche“, schniefte er, „dieser verdammte Herbst bringt mich eines Tages noch um.“
Edwards grinste. „Du klingst furchtbar, Noah. Vielleicht solltest du mal zu einem richtigen Arzt gehen.“
„Ich bin ein richtiger Arzt“, erwiderte Aeglewood verschnupft. „Ich kann auch den Coroner kommen lassen, wenn dir der lieber ist.“
„Nein, nein“, beschwichtigte Edwards. „Der sagt uns nur, dass sie tot ist, und das kann ich selbst sehen.“
Aeglewood schnäuzte sich ein weiteres Mal und zupfte am Revers seines Jacketts, ehe er sich neben dem Kopf der Toten niederkniete.
„Gentlemen. Sie ist erwürgt worden. Hier, diese Male auf dem Kehlkopf sind eindeutig. Dafür kommt nur ein dünner Strick in Frage. Er hat vermutlich ein dünnes Holz benutzt, das er in ihrem Nacken in eine Schlaufe gesteckt hat, um den Strick dann langsam enger zu drehen. Durch den Hebel braucht man nicht viel Kraft. Irgendwann hat es ihr den Kehlkopf zerquetscht.
„Starb sie schnell?“, wollte Edwards wissen.
„Das lässt sich schwer sagen. Ich weiß nur, dass sie sich sehr gewehrt hat. Sehen Sie hier. Die Quetschungen am Handgelenk, die Schnitte und Blutergüsse. Das kommt von eisernen Handschellen. Offensichtlich sehr scharfkantig. Außerdem wurde ihr die Nase gebrochen. Vermutlich durch einen einzigen Schlag ins Gesicht. Ich werde sie mir aber noch genauer ansehen. Vielleicht finde ich noch etwas anderes, was für Sie von Interesse sein könnte.“
DeFries blieb sachlich. „Wir wären schon einen Schritt weiter, wenn wir wüssten, wer die Frau ist.“
„Das ist Madame Yin“, erklärte Edwards, ohne den Blick von der Toten zu nehmen.
„Als ich bei der H-Division anfing, arbeitete sie noch als einfache Straßendirne. Es gab damals ziemlich oft Ärger mit Freiern, die handgreiflich wurden, dabei sind wir uns ein paar Mal begegnet. Dann hat sie sich hochgearbeitet. Ein paar Jahre später führte sie bereits ein Bordell in Lambeth. Als ich dann zu Kippwell kam, habe ich sie aus den Augen verloren … aber ich habe noch gelegentlich von ihr gehört. Es schien gut für sie zu laufen.“
„Eine junge Frau aus gutem Hause und eine Bordellbesitzerin. Beide auf die gleiche Weise getötet. Wie passt das zusammen?“, hörte er DeFries fragen.
„Um das zu beantworten, müsste ich mehr über das erste Opfer wissen.“ Edwards hatte vom ersten Mord nur am Rande erfahren.
„Ich habe Kippwell befohlen, Ihnen alles zu diesem Fall zukommen zu lassen.“
„Hmm“, machte Edwards bloß, während er noch einmal zur Leiche sah, die inzwischen von zwei Helfern von Deck getragen wurde. Ein weißes Leinentuch lag über ihr.
Doktor Aeglewood tippte sich an den Rand seines Hutes. „Gentlemen. Wenn es Neuigkeiten gibt, lasse ich es Sie wissen.“
„Ich denke, wir sind hier fertig“, sagte DeFries. „Wir kommen mit Ihnen.“
Einer der Watermen räusperte sich und klang dabei wie eine Katze, die ein Fellknäuel hochwürgte.
„T'schuldig'n Sie die Störung, Sörs, aber ich hätt' da mal 'ne Frage.“
„Ja, guter Mann?“, sagte DeFries.
„Sör, ahem. Wir hab'n jetzt ziemlich lang gewartet und konnten nich' arbeiten. Gibt's vielleicht so was wie 'n … Finderlohn? Versteh'n Se? Wir woll'n nich' gierig sein, aber wir kommen sons' nich' rum.“
„Ich verstehe schon. Aber nein, wir zahlen Zeugen nichts, wenn sie uns zu einem Tatort rufen. Tut mir leid.“
„Und was is' mit dem Schaden am Schiff? Der Motor hat was abgekriegt und die Schraube is' sicher auch hin. Wie soll'n wir denn den Kram bezahl'n, den wir brauch'n?“
„So gerne ich Ihnen helfen würde, aber Sie hatten Pech und Scotland Yard übernimmt nicht die Haftung für entstandene Schäden, noch für ihren entgangenen Lohn.“
„Zum Teufel“, kam es Dorsey in ehrlicher Wut über die Lippen, was ihm sofort leidtat. „Tschuldigung“, beeilte er sich zu sagen. „Is' nur so, dass wir dann heute Abend nix zu beißen ham. Und wenn die Princess nich' fahren kann, verdien' wir auch nix. Ich hab vier Mäuler zu stopfen.“
Für DeFries war das Gespräch beendet. Er nickte knapp und schloss sich Aeglewood an.
Edwards hingegen nahm drei Schillinge aus seiner Geldbörse und steckte sie den Männern zu.
„Wenn ihr noch was habt, was ich wissen müsste, fragt bei Scotland Yard nach Robert Edwards. Verstanden?“
„Ja, Sör. Vielen Dank. Sie sin' ehrvoller Kerl, ja wirklich, dass sin' Se .“
„Euch noch einen guten Tag.“
Als Edwards zu DeFries in die Kutsche stieg, erwartete der ihn mit einem väterlich tadelnden Blick, den er bereits zur Genüge kannte.
„Zurück zum Yard“, sagte DeFries und klopfte an die Decke der Hansom-Kutsche.
Der Fahrer schnalzte mit der Zunge. Das Pferd schnaubte und sie fuhren los.
„Sie sollten nicht so freigiebig sein, Robert. Wenn Sie auf jede traurige Geschichte reinfallen, sind Sie bald arm wie eine Kirchenmaus.“
„Ja, ja, ich weiß.“ DeFries konnte ihn nicht verstehen. Er musste das tun. Er hatte Glück gehabt. Vom Gossenkind zum Polizisten. Er musste nicht hungern und auf der Straße schlafen musste er auch nicht mehr. Es lief gut für ihn. Zu gut? Wie schnell konnte er wieder in der Gosse landen? Ein einziger Fehler genügte. Ein falsches Wort an der falschen Stelle. Menschen wie Dorsey und Potts erinnerten ihn daran, dass es schneller bergab als bergauf ging. Nachdenklich strich er sich über seinen Schnurrbart.
„Woran denken Sie, Robert?“
Edwards zuckte zusammen, als hätte DeFries ihn mit einer Nadel gestochen. „An nichts wirklich Bestimmtes.“
„Sie sind ein schlechter Lügner, Robert. Ich sehe immer, wenn Sie etwas beschäftigt. Sie tragen Ihre Stärken und Schwächen offen mit sich herum. Eine erfrischende Eigenschaft, aber … riskant. Besonders in unserem Beruf. Es macht Sie angreifbar. Seien Sie also auf der Hut.“
„Ich werd's nicht vergessen.“
DeFries sah ihn schräg an. „Sie vergessen meine Ermahnungen doch ständig.“
Edwards schwieg.
Eine halbe Stunde später erreichte ihre Kutsche Whitehall Place Nr. 4.
Sie fuhren durch ein Tor, das sie in einen Innenhof brachte. Dort lag der Eingang zum Gebäude von Scotland Yard. Die Mauern bestanden aus rotem Backstein. Auf den Fensterscheiben spiegelten sich die vorbeiziehenden Wolken und die beiden Straßenlaternen, die den kurzen Weg zum Eingang flankierten. Auf dem Platz, vor dem Gebäude, stand eine Black Maria . Vor der schweren Gefangenenkutsche waren zwei schwarze Friesen angespannt, die unruhig mit den Hufen scharrten. Ein paar Bobbys unterhielten sich mit dem Kutscher und rauchten.
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