Die Nachricht vom Fall Charkows schlug am 15. Februar wie eine Bombe in der Wolfsschanze ein. Ausgerechnet der SS-Obergruppenführer Paul Hausser, dem man weder Ungehorsam noch Feigheit nachsagen konnte, hatte mit seinem III. SS-Panzerkorps die mit 900 000 Einwohnern zweitgrößte Stadt der Ukraine – entgegen einem ausdrücklichen Führerbefehl – geräumt, um seine Soldaten zu retten.
Hitler tobte und entschloß sich zu einem Blitzbesuch bei seinen Oberbefehlshabern im Osten. Auch diesmal rang er sich nicht zu einem Abstecher zu seinen Frontsoldaten – mit denen er, wie er sagte, litt und die er rücksichtslos verheizte – durch. Er hatte sich zu einem Besuch in der Etappe entschlossen, um die Rückeroberung Charkows mit allen Mitteln voranzutreiben und seinen »Zitadelle«-Plan durchzusprechen, aber er sollte nun doch aus erster Hand einen Anschauungsunterricht erhalten, wie sehr sich die Kriegführung – seit seiner Zeit als Gefreiter im Ersten Weltkrieg – gewandelt hatte, vor allem in Rußland, wo Front und Etappe oft ineinander übergingen.
Eingehüllt in starken Jagdschutz, flog der Diktator am 17. Februar mit seinem auf zwei FW 200 Condor verteilten Gefolge und Sicherheitspersonal in das Hauptquartier der Heeresgruppe Don nach Saporoschje ab. Aus Geheimhaltungsgründen erfuhr Manstein erst im letzten Moment, daß Hitler zu ihm unterwegs war. Der Generalfeldmarschall, dessen Verdienste um die Stabilisierung der Front nicht bezweifelt werden konnten, hatte mehr Einfluß auf den Diktator als andere Heerführer. Er redete ihm zunächst einmal aus, Charkow überstürzt zurückzuerobern, und stellte für die »Operation Zitadelle« Bedingungen für eine Neuauffrischung der Truppen und ihre neue Bewaffnung. Hitler verstieg sich zu der Feststellung: »Unbekannte, einzigartig dastehende Waffen befinden sich auf dem Weg zu euren Fronten.«
Während er Versprechungen abgab, die ihm – wenn auch keiner widersprach – kaum einer der zuhörenden Offiziere glaubte, wurde Panzeralarm gegeben. Eine Brigade T 34 hatte überraschend die Hauptkampflinie durchbrochen, und zwischen ihr und dem Hauptquartier standen nur zwei Stunden Fahrt und eine einzige Wachkompanie.
Flugkapitän Hans Baur wollte die Führer-Condor sofort auf einen weiter westlich gelegenen Flugplatz verlegen, aber Hitler zögerte, und schließlich wurde gemeldet, daß die Sowjetpanzer ihren Angriff abgebrochen hätten. Später stellte sich heraus, daß ihnen der Treibstoff ausgegangen war.
Hitler schloß seine Besprechung mit Manstein ab und flog nach Rastenburg zurück. Später wollte er das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte besuchen, wo ihn bei Smolensk eine noch weit tödlichere Gefahr erwartete als russische Panzer: Angeführt vom Ersten Generalstabsoffizier der Heeresgruppe, dem Obersten und späteren Generalmajor Henning von Tresckow, hatte eine Gruppe von Frondeuren seit langem eine Falle für ihn aufgestellt, Offiziere, die nicht mehr im Halbdunkel des Salons flüsternd über Wert und Unwert des Fahneneids debattierten, sondern entschlossen waren, Adolf Hitler zu töten. »Insgesamt war im Stab der Heeresgruppe Mitte«, so stellt der Historiker Peter Hoffmann fest, »die stärkste Oppositionsgruppe konzentriert, die je bestanden hatte.«
Die beiden Offiziere gingen spazieren. Unvermittelt blieb Oberst von Tresckow stehen. »Fragen Sie mich bitte jetzt nichts, Gersdorff«, sagte er zum IC, »aber ich brauche einmal einen besonders wirksamen Sprengstoff, der wenig Raum beansprucht, und zum anderen einen absolut zuverlässigen Zeitzünder, der keinerlei Geräusche verursacht. Können Sie mir beides besorgen?«
Der Oberst und spätere Generalmajor Rudolph Christoph Freiherr von Gersdorff – auf dem weiten Weg vom preußischen Junker zum handelnden Rebellen – ahnte, daß er das Rohmaterial für eine Bombe gegen Hitler liefern sollte; er hatte nichts dagegen, und er verstand auch, warum ihm Tresckow keine näheren Erklärungen gab. Der alte Kavallerieoffizier wandte sich an die Sabotageabteilung der militärischen Abwehr und erklärte, an neuartigen Sprengmitteln für den Einsatz hinter den russischen Linien interessiert zu sein.
Dem Oberstleutnant Wilhelm Hotzel schmeichelte das Interesse des Besuchers, der von der Front kam. Bereitwillig zeigte er Gersdorff das in Frage kommende Arsenal: Sprengmunition, Zündkapseln und andere brisante Geräte.
»Das deutsche Material machte einen soliden, aber meist sehr aufwendigen Eindruck«, stellt in seinem Buch »Soldat im Untergang« Gersdorff fest. »Vor allem waren die deutschen Zünder mit einem tickenden Uhrwerk versehen. Dann wurde mir Material gezeigt, das die Briten zur Versorgung französischer und holländischer Widerstandskämpfer über den besetzten Gebieten abgeworfen hatten. Durch gefaßte und umgedrehte feindliche Funkagenten hatte die deutsche Abwehr unverfängliche Verbindungen mit den Absendestellen in Großbritannien herstellen können. In sogenannten Funkspielen wurde das Material angefordert. Es brauchte dann nur eingesammelt zu werden. Auch bei fehlgeschlagenen britischen Kommandounternehmen an der Kanalküste waren größere Mengen des britischen Materials erbeutet worden.
Der englische Sprengstoff bestand aus einer Plastikmasse, die sich in jede beliebige Form kneten ließ. Die dazugehörigen Zünder wirkten auf chemischem Weg und verursachten daher keinerlei Geräusch. Sie hatten die Form eines dicken Bleistiftes. Am oberen Ende befand sich unter der Metallhülse eine Säurekapsel über einem Draht, der eine Schraubfeder zusammendrückte und unter Spannung hielt. Der Draht war von Baumwolle umgeben. Zerdrückte man die Säureampulle, so entwich die Säure in die Watte und zerfraß in einer bestimmten Zeit den Draht, der dann die Feder freigab, welche einen Bolzen auf die Zündkapsel schnellen ließ und so die Explosion auslöste. Je nach Stärke des Drahtes gab es Zünder mit einer Zünddauer von zehn, dreißig, sechzig und mehr Minuten. Die jeweilige Zünddauer war durch farbige Ringe auf den Zündern gekennzeichnet. So hatte zum Beispiel der Zehn-Minuten-Zünder einen schwarzen Ring.«
Freiherr von Gersdorff bat um eine Demonstration. »Die Wirkung des Sprengstoffes war erstaunlich. Wenige Gramm zerfetzten Eisenbahnschienen. Dann ließ ich an einem russischen Beutepanzer eine Ladung von zirka 250 Gramm anbringen: die Panzerkuppel wurde abgesprengt und meterweit durch die Luft geschleudert. Dieses Material mußte Tresckows Wünsche in idealer Weise erfüllen. Ich bat Oberstleutnant Hotzel, mir ein Sortiment der verschiedenen Geräte zur Verfügung zu stellen, da ich dem Feldmarschall die neuartigen Sabotagemittel zeigen wollte. Hotzel ließ mir alle möglichen Geräte, darunter auch Proben der britischen Sprengmittel, einpacken. Korrekterweise verlangte der das Lager verwaltende Feldwebel, daß ich den Empfang des im einzelnen aufgeführten Materials in einem Quittungsbuch durch meine Unterschrift bescheinige. Beim Unterschreiben fragte ich mich, ob ich mein eigenes Todesurteil unterzeichne.«
Der englische Sprengstoff kam mit unfreiwilliger Hilfe der französischen Résistance in deutsche Hände und wurde doch dem Ursprungszweck wieder zugeführt. Es handelte sich um die gleiche brisante Mischung, die bei der Bombe gegen den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren und RSHA-Chef Reinhard Heydrich ihren Zweck erfüllt hatte. Bald probten Tresckow und seine Freunde auf den Dnjepr-Wiesen den Tyrannenmord. Der willige I C mußte noch mehrmals bei der Abwehr vorsprechen und um Nachlieferung bitten, dann verliefen die Experimente erfolgreich.
Der Diktator brauchte nur noch im Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte, in Krasny Bor bei Smolensk, zu erscheinen.
Tresckow, der Motor der Rebellen, hatte eine hohe Stirn, kühle Augen, einen geraden Mund und ein energisches Kinn. Er war ein höchst begabter, doch auch höchst ungewöhnlicher Generalstabsoffizier. Er entstammte einer Familie, in der es Dogma war, Offizier zu werden. Der Hochgebildete folgte dem Familienwunsch, und sein erster Kommandeur sagte zu ihm vor versammelter Mannschaft: »Sie, Tresckow, werden einmal Chef des Generalstabs werden oder als Revoluzzer auf dem Schafott enden.«
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