Lise Gast
Neuer Anfang auf Wienhagen
Die Geschichte einer Familie
Mädchenroman
Saga
Neuer Anfang auf Wienhagen
© 1958 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509814
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com
Ein krachender Donnerschlag. Elisabeth fuhr hoch, schlafbetäubt und benommen. Sie saß noch einen Augenblick still, dann taumelte sie aus dem Bett. Ingrid und Barbara rührten sich nicht.
Krach — schon wieder. Elisabeth tastete sich mit den Armen in den Bademantel-Ärmel hinein und trat in die Turnschuhe. Sie hatte Angst vor Gewitter, wie die meisten Leute auf dem Lande. Aber gleichzeitig fühlte sie, daß es gut war, geweckt worden zu sein. Sie hatte so entsetzlich geträumt.
Seit einiger Zeit hatte sie häufiger solche Träume: Immer zerbrach etwas, fiel in sich zusammen, etwas, das man heiß und besinnungslos liebte. Diesmal war es die alte Linde im Hof gewesen. Elisabeth sah noch vor sich, wie der Riesenbaum im Traum zusammenstürzte, krachend und wie um Hilfe schreiend — natürlich kam das vom Gewitter. Man träumt ja oft etwas, was man eigentlich schon halbwach miterlebt; beispielsweise, daß die Schulklingel tönt, wenn der Wecker geht. Elisabeth sagte sich das, aber das Entsetzen des Traumes saß noch tief in ihr. Sie tappte durch den Flur der Haustür zu, um sich zu überzeugen, daß es nur ein Traum gewesen war und daß der geliebte Baum noch stand.
Sie hatte kein Licht gemacht. Durch die Flurfenster blendeten die Blitze fast pausenlos herein, schwefelgelb und fast taghell. Man fand sich mühelos zurecht, ohne anzustoßen.
Dann sah Elisabeth, daß die Haustür offenstand. „Nanu?“ Aber vielleicht geisterte hier schon jemand anderes herum, um wie sie zu sehen, ob auch alles in Ordnung war. Richtig, Detlev. Er stand in der Trainingshose über dem Nachthemd unter dem kleinen Vordach und sah in die Blitze.
Elisabeth fühlte eine kleine, wärmende Beruhigung, während sie neben den Bruder trat. Er schien ihren Schritt gehört zu haben.
„Toll, was?“ sagte er, ohne sie anzusehen. „Guck mal den — der war rosa, und er hatte sicher fünfzig Verästelungen, wenn nicht mehr.“
„Schrecklich. Hört denn das nicht auf?“ fragte sie und zog den Mantel am Hals zusammen. Detlev lachte durch die Nase.
„Glaube ich nicht. Das setzt sich über Wienhagen fest und findet nicht weg. Wir haben das ja oft erlebt —“ Seine Stimme ging im Krachen des Donners unter. Elisabeth zog ihn rückwärts.
„Komm rein! — Sonst erwischt es dich womöglich.“
„Mich? Dann schon eher die Linde.“
„Du sollst so was nicht sagen. Ich hab’ sowieso geträumt —“ Sie hielt inne. Träume soll man nicht erzählen!
„Was denn?“
„Ach, laß doch. — Ich habe Angst!“ Es war ihr herausgerutscht. Mit sieben Geschwistern aufgewachsen, vier Brüdern und drei Schwestern, noch dazu als Nummer zwei, als Älteste nach Detlev, hatte sie das wohl noch nie gesagt. Man sagt so etwas nicht, man blamiert sich nicht gern vor den spottlustigen anderen. Beim Reiten und Schilaufen, beim Schwimmen und Klettern — nie durfte man merken lassen, wenn man Angst hatte. Jetzt sagte sie es. Es war ihr entfahren, und sie hielt erschrocken inne. Nun würde Detlev sie verhöhnen.
„Du auch?“ fragte er leise. Es klang so, wie sie es von ihm noch nie gehört hatte: erwachsen, ernst. Elisabeth glaubte, sich doch vielleicht geirrt zu haben. Hatte er wahrhaftig gesagt: „Auch?“
„Komm’ rein“, sagte sie und nahm sich zusammen. Die Linde stand noch, sie hatte es im Licht der Blitze genau gesehen. „Komm, es fängt an zu regnen. So ein Quatsch, hier naß zu werden.“
Er folgte, wenn auch zögernd. Sie tappten den Flur entlang. Die Tür zum Jungenzimmer stand halb offen. Heiner saß aufrecht im Bett.
„Brennt’s?“ fragte er hellwach und mit der bebenden Sensationslust, die Jungen bei Autounfällen, Gewittern und Explosionen empfinden, einem Gefühl, gemischt aus Furcht und Freude, das der Erwachsene einzugestehen nicht mehr den Mut hat.
„Zum Glück nicht“, sagte Detlev barsch und warf die Tür zu. „Du verdienst eine Tracht Prügel, wahrhaftig. Brennt’s, brennt’s! Sowas zu fragen!“
„Vielleicht wollte er wirklich nur wissen, ob es auch nicht eingeschlagen hat?“ sagte Elisabeth begütigend. „Das ist doch noch kein Grund, ihn zu prügeln.“
Detlev blieb an einem der Flurfenster stehen. Er sah Elisabeth nicht an.
„Doch, es ist einer. Überhaupt — Heiner verdient mehr Schläge, als wir alle zusammen je bekommen haben.“
„Was hat er denn verbrochen?“ fragte Elisabeth nach einer ziemlich langen Weile, in der sie beide geschwiegen hatten. Ihre Stimme klang klein und zerdrückt.
„Ich habe es Mutter noch gar nicht gesagt.“ Detlev nahm sich zusammen und versuchte, sachlich und ruhig zu sprechen. Aber die Empörung machte seine Stimme tief und rauh. „Heiner, unser süßer Kleiner! Weißt du, was er auf dem Kerbholz hat? Schule geschwänzt hat er, zwei Wochen lang. Hast du Worte?“
„Aber er ist doch jeden Tag —“
„Irrtum! Hinter die Schule ist er gegangen; wer weiß, wo er sich herumgetrieben hat. Und von Fräulein Honigmann hat er sich entschuldigen lassen. Stell dir das vor!“
Fräulein Honigmann, die frühere Hausdame von Wienhagen, wohnte seit einiger Zeit in der Kreisstadt, wo sich auch die Schulen der Kinder befanden. Sie hatte Heiner immer besonders geliebt und als damals Jüngsten entsprechend verwöhnt. Er bekam jeden Willen bei ihr erfüllt.
Daß er sie öfter besucht, das wußte ich“, fuhr Detlev fort, „und das fand ich immer anerkennenswert, treu, verstehst du. Denn wir haben ihr damals das Leben wahrhaftig nicht leicht gemacht. Er machte übrigens alle Dummheiten mit, auch wenn er nach außen hin unschuldig tat. Jetzt aber dachte ich, er gehe sie aus wirklicher Anhänglichkeit besuchen. So sieht er aus! Er hat sie beschwatzt, ihn telefonisch zu entschuldigen. Halsschmerzen! Na ja, ihm hat sie von jeher alles geglaubt. Freilich meinte sie, es handle sich um einen oder zwei Tage. Wer denkt denn auch an sowas?“
„Und?“ fragte Elisabeth fast lautlos. „Und nun?“
„Nun soll er von der Schule fliegen.“ Die Geschwister zuckten bei einem grellen Blitz zusammen, dem unmittelbar ein fürchterlicher Donnerschlag folgte. Nach einer Weile fuhr Detlev fort: „Mutter bekommt noch einen Brief. Consilium abeundi, das heißt zwar nur, der gute Rat, abzugehen. Aber meines Wissens ist noch niemand, der ihn bekam, länger auf der Schule geblieben. Man fliegt dann eben früher oder später bei der nächsten, winzig kleinen Gelegenheit. Meist früher.“
Detlev schwieg. Elisabeth preßte die Hände zusammen.
„Und du willst es Mutter sagen, ehe der Brief kommt?“
„Ich halte das für richtig. Man kann dann doch — sie erschrickt dann vielleicht nicht gar so sehr.“ Detlev schwieg. Elisabeth wagte nichts zu sagen. Sie standen schweigend und sahen aus dem Fenster.
„Du sagtest vorhin, du hättest Angst — du auch“, begann Elisabeth dann wieder zögernd, schüchtern. Sie stockte immer wieder; aber irgend etwas trieb sie, zu reden. „Hast du nur Angst um Heiner? — weil du denkst, er kommt auf eine schiefe Bahn? — oder?“
„Nicht nur um Heiner, Rüdi ist in der Schule auch ziemlich schlecht angeschrieben. Dauernd hat er Arrest. Und er ist in einer wenig netten Klasse. Keine Raufbolde, verstehst du, sondern — nun, eben Jünglinge, wie man sie sich nicht als Umgang für seinen jüngeren Bruder wünscht. Das ist es aber nicht allein.“
Читать дальше