Elisabeth legte ganz schnell die Arme um Mutters Hals. Das tat sie sonst nie. Irgend etwas hatte sie heftig angerührt. Sie saßen aneinandergelehnt und versuchten, Trost beieinander zu finden. Sie wollten beide tapfer sein und versuchen, alles, was kam, richtig und schön zu finden. Sie mußten es lernen.
Ob es gelingen würde? Elisabeth hatte Mutter vorhin einen Wimperschlag lang angesehen. Freilich, Mutter tröstete, wie sie früher getröstet hatte, als man noch klein war und heulte, weil man auf die Nase gefallen war oder ein Schulbuch nicht finden konnte. Jetzt aber merkte man, daß sie vielleicht selbst ein wenig Trost brauchte.
‚Ich will versuchen, ihr zu helfen‘, nahm sich Elisabeth vor, ‚ich will stark sein und Mutter beistehen!‘
Sie war siebzehn Jahre alt. Sie hatte einen älteren Bruder und sechs kleinere Geschwister — und keinen Vater mehr, der, stark, groß und selbstverständlich, vor ihnen allen stand und die Schläge, die das Leben austeilte, auffing. Dafür eine Mutter, die sich redlich bemühte, Vater zu ersetzen, die aber ein wenig zart war.
Elisabeth fühlte dies alles im Augenblick sehr deutlich und sehr bedrängend. War es verwunderlich, daß ihr Herz ein wenig verzagt schlug, als sie fühlte: ‚Du bist nun groß. Auf dich kommt es an!‘
„Nun gebt schon Ruhe und schlaft gut!“ sagte Ingrid. Es klang ein bißchen ungeduldig. Die beiden Fünfjährigen merkten es sofort. Sie hatten überhaupt eine unglaubliche Fähigkeit, Dinge zu begreifen, die noch nicht für sie bestimmt waren. Nichts entging ihnen. Ingrid beugte sich heuchlerisch zärtlich über Lianes Bett.
„Nun müßt ihr einschlafen, es ist schon schrecklich spät und ganz dunkel.“
„Ist ja gar nicht wahr! Hell ist es“, verkündete Gerd, der in seinem Bett am Fenster stand und unter dem Vorhang hinaussah. Ingrid zog die Gardine schnell wieder glatt und legte den kleinen Bruder zum — sie wußte nicht zum wievielten Male — wieder im Bettchen zurecht.
„Das ist doch der Mond. Die Sonne ist längst hinter den sieben Bergen. Dann müssen alle Kinder schlafen.“ Sie nahm auch die kleine Schwester noch einmal heraus, setzte sie auf die Wickelkommode, die noch von früher her hier stand, und brachte Lianes Bett von neuem in Ordnung. „So, aber jetzt wird wirklich still gelegen, oder es setzt was. Verstanden?“
„Erzähl noch von den prima Stadtmusikanten!“ verlangte Liane. „Wovon?“ fragte Ingrid.
„Von den prima Stadtmusikanten!“ wiederholte Liane gebieterisch in Lautstärke zwölf. „Es war einmal ein Esel, der war alt geworden, und sein Herr —“
„Ach, von den Bremer — Bremer Stadtmusikanten heißt das“, sagte Ingrid und lachte, „aus Bremen waren die, oder vielmehr: in Bremen gaben sie ihre Konzerte. Darum hießen sie so.“
„Egal. Erzähl!“ verlangte nun auch Gerd. Ingrid setzte sich neben sein Bett. Sie merkte, daß sie nicht davonkam, ehe sie den Kindern den Willen getan hatte.
Dabei wollten sie heute nacht krebsen gehen, Detlev, Elisabeth, Barbara und sie. Früher, als Vater noch lebte, hatten sie zu Pfingsten immer ein großes Krebsessen veranstaltet. In den letzten Jahren hatte niemand daran gedacht. Dies Jahr sollte aber etwas besonders Schönes veranstaltet werden, wenn Heiner und Rüdi das erste Mal zu den Ferien heimkamen. Da hatte Detlev dies ausgedacht.
Mutter durfte nichts ahnen. Sie sollte es erst erfahren, wenn sie genug Krebse gefangen hatten. Es war immer so lustig, wenn man mit seiner krabbelnden Beute kam, und alle Küchenmädel flohen kreischend. Ingrid lachte.
„— und sie blieben im Haus der Räuber wohnen und zogen nur manchmal noch nach Bremen, wenn sie gerade Lust hatten, um dort ihre Konzerte zu geben. Denn die Räuber hatten viel Gold und Edelsteine aufgehäuft, so daß sie ihr Lebtag keine Not mehr litten. Aber es war von Zeit zu Zeit hübsch, wieder einmal zu musizieren, I-a und Wauwau und Miau und Kickericki — alles auf einmal. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
„Ingrid, kommst du endlich?“ Das war Detlevs Stimme.
„Ja. Ich bin eben fertig.“
„Erst nochmal Konzert machen“, verlangte Gerd, der Unersättliche. Ingrid blieb in der halboffenen Tür stehen.
„Was noch?“
„Prima Stadtmusikanten-Konzert!“ Er blieb dabei.
„Dann los. Detlev, komm, mach den Esel“, sagte Ingrid ergeben. Detlev trat ein.
„Den Esel machen? Wieso denn?“
„Nur I-a schreien. Das andere ergibt sich von selbst“, bestimmte Ingrid. „Ich bin die Katze, Gerd ist der Hund, Liane macht den Hahn. Aber feste, hört ihr? So: eins — zwei — drei!“
Sie brüllten alle vier los, so laut sie konnten, jeder seine Tierstimme. Es klang wunderbar und ohrenzerreißend.
„Nochmal!“ seufzte Gerd, als sie ausgeschrien hatten.
„Dann ist aber wirklich Schluß“, sagte Detlev streng. Sie schrien noch einmal. Und dann gingen die beiden Großen, nachdem sie das Licht ausgedreht hatten.
„Du verwöhnst die zwei“, sagte Detlev, während sie eilig durch den Flur liefen. „Elisabeth und Barbara werden schon wütend sein.“
„Und wenn schon. Sie sind doch lieb, unsere Hasen! — So, jetzt geht’s los. Hast du die Krebsteller?“
Barbara trug sie in ihrem Henkelkorb. Sie stand mit Elisabeth an der Haustür. Detlev inspizierte das Jagdzeug.
Die Krebsteller hatten sie sich selbst hergestellt. Dicker Draht wird zu einem etwas übertellergroßen Ring zusammengebogen und mit einem Netz überzogen. Die Mädel hatten dazu ein uraltes Pferdefliegennetz zerschnitten, das Barbara irgendwo auf dem Dachboden aufgestöbert hatte, ein weitmaschiges Geflecht, das locker über die Drahtringe gezogen wurde. Nun brauchte man nur noch an drei Seiten Bindfäden anzuknoten, die oben zusammenliefen und einen Korken bekamen, einen Griff, wie Barbara es nannte. Mit ihm, der immer an der Oberfläche des Wassers blieb, konnte man den Krebsteller leicht wiederfinden und herausheben. Mitten auf das Maschengeflecht kam ein Stück Blei oder eine alte dicke Schraube, irgend etwas Schweres, was den Teller untenhielt, und dazu ein Stück schlechtgewordenes Fleisch. Krebse lieben Aas und lassen sich davon anlocken. Aber verdorbenes Fleisch zu bekommen, war manchmal nicht einfach. Rüdi hatte einmal eine Ohrfeige geerntet, als er in einem Metzgerladen „ein halbes Pfund stinkiges Fleisch“ verlangt hatte.
Wenn man diesen Krebsteller in den Bach stellte, brauchte man nur ein wenig zu warten, dann konnte man ihn am Korken herausheben und ins Gras setzen. Die Krebse, durch das Fleisch angelockt, konnten mit ihren acht Beinen nicht so schnell aus dem lockeren Geflecht des Netzes entkommen, und man griff sie an ihren Rückenpanzern und setzte sie in den Korb, den man vorher mit Brennesseln ausgepolstert hatte. Warum damit? Keiner wußte es zu erklären, es hieß, die Krebse „hielten“ sich besser darin.
Detlev hatte die Taschenlampe mit, Barbara trug ein Petroleumlämpchen. Mit der Taschenlampe leuchtete man die Teller an, ob schon etwas daraufsaß, mit dem Lämpchen lockte man noch zusätzlich Krebse heran. Die schienen diesen milden, rötlichen Schein mehr zu lieben als den grellen Kegel des elektrischen Lichtes.
Während die Geschwister dem Bach zuwanderten, unterhielten sie sich darüber, wo es wohl die meisten Krebse gebe. Sie hatten in den letzten Sommern keine weggefangen, vielleicht hatten die Krebse sich da tüchtig vermehrt.
Die Nacht war sehr hell. Der Weg führte durch die Felder dem Wald zu, der schwarz von ihnen lag. Die Saaten standen gut. Das Frühjahr war warm gewesen, im Mai hatte es genügend geregnet. Das Heu war schon alles in den Scheunen. — Jetzt legte sich eine schwere Wolke vor den Mond. Aber die Geschwister kannten den Weg gut. Der nahe Wald war das Spielgebiet der Jungen seit den Tagen der frühen Kindheit gewesen, und jetzt ging der eine oder andere mal mit der Mutter nach dem Abendessen diesen Weg, wenn man etwas ausspannen wollte oder wenn eine wichtige Angelegenheit unter vier Augen besprochen werden sollte.
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