In diesem Augenblick schrillte das Telefon.
Dr. Schumann war sofort alarmiert. Er legte seine Hand auf Kirstens Arm.
»Entschuldige mich, bitte«, rief er hastig und ging mit großen Schritten in seinen Arbeitsraum hinüber, nahm den Hörer, lauschte wenige Sekunden, sagte: »Ich komme sofort!« und hängte ein.
Einen Augenblick blieb er am Schreibtisch stehen und überlegte, ob es richtig wäre, sich von Astrid zu verabschieden. Vielleicht würde sie es als eine Störung ihrer Party auffassen. Bevor er einen Entschluß gefaßt hatte, kam Astrid lautlos ins Zimmer. »Du mußt fort?« fragte sie beherrscht.
»Leider. Aber wenn alles gut geht, bin ich in einer knappen Stunde wieder zurück.«
»Susanne Overhoff?«
»Ja.«
Ihm schien es, als würden ihre Lippen schmal.
»Astrid, ich …«
»Mir brauchst du nichts zu erklären. Geh!« Ihre Stimme hatte einen gereizten, ja feindlichen Ton, der ihn aus der Fassung brachte.
»Aber Astrid«, stammelte er hilflos und wollte ihr einen flüchtigen Kuß geben, doch sie wandte sich so brüsk ab, daß seine Lippen nur ihr Haar berührten. Eine Sekunde stand er wie erstarrt. Dann holte er tief Atem, straffte die Schultern und verließ mit energischen Schritten den Raum. Weder er noch Astrid hatten bemerkt, daß Kirsten hereingekommen war.
»Na hör mal«, sagte Kirsten jetzt, »so solltest du Rainer wirklich nicht behandeln!«
Astrid drehte sich langsam zu ihrer Schwester um.
»Was verstehst du schon davon!«
»Ich weiß, daß Rainer dich liebt und …« Sie unterbrach sich. »Du kannst ihm doch nicht im Ernst böse sein, weil er in die Klinik gerufen worden ist? Schließlich ist er Arzt, und du hättest damit rechnen müssen, als du ihn heiratetest!«
»Weißt du auch, wohin er geht?«
Kirsten sah sie verständnislos an. »In die Klinik natürlich!«
»Zu Susanne Overhoff!«
»Na und?«
»Sie erwartet ihr drittes Kind …«
»Die Glückliche!«
»Wenn du ein bißchen gescheiter wärest, würdest du nicht so sprechen.«
»Ich verstehe nicht …«
Astrid nahm mit einer nervösen Bewegung eine Zigarette aus der kleinen Zinndose auf dem Schreibtisch, steckte sie zwischen die Lippen, zündete sie an und inhalierte mit einem tiefen Zug, bevor sie weitersprach. »Wenn es dich wirklich interessiert, werde ich es dir erklären …«
»Bitte …«
»Susanne Overhoff hat eine sechzehnjährige Tochter. Der einzige Sohn ist vor drei Jahren verunglückt …«
»Wie schrecklich!«
»Hör nur erst weiter!« Astrid machte wieder einen Lungenzug. »Beide Kinder sind durch Kaiserschnitt zur Welt gekommen … Susannes Becken ist zu schmal, verstehst du?«
»Ja, aber …«
»Jeder Arzt wird dir bestätigen, daß ein dritter Kaiserschnitt bei schwächlicher Konstitution der Mutter lebensgefährlich sein kann.«
»Aber … das muß der Professor doch wissen! Und Rainer auch!«
»Natürlich wissen sie es. Und gerade weil sie es wissen und trotzdem nicht verhindert haben, sind sie … in meinen Augen wenigstens … Verbrecher.«
»Astrid!« rief Kirsten entsetzt.
»Entschuldige. Aber ich dachte, du wolltest die Wahrheit hören!« Astrid drückte ihre Zigarette aus.
»Wie hätte Rainer es denn verhindern können? Nun nimm mal Vernunft an. Schließlich ist er nicht der Chef, und auch nicht der Vater des Kindes. Und überhaupt … was sagt denn Frau Overhoff dazu? Weiß sie, wie gefährlich es ist?«
»Natürlich. Sie ist doch eine Arztfrau.«
»Dann hätte sie ihren Mann bitten können …«
»Sie will es haben«, sagte Astrid bitter, »sie ist streng gläubig, und dann … sie hat es sich in den Kopf gesetzt, ihrem Mann einen Sohn zu schenken.«
Kirsten schwieg einen Atemzug lang. »Sei mir nicht böse, Astrid«, sagte sie dann, »aber ich glaube … ich kann das verstehen.«
»Ja, du! Weil du den Wert einer Frau nur darin siehst, ob sie Kinder haben kann oder nicht … ob sie sie in die Welt setzen will oder nicht. Aber begreifst du denn nicht, daß das heller Wahnsinn ist? Eine Frau ist doch eine Persönlichkeit, ihr Leben hat einen Wert, eine Bedeutung, die ganz unabhängig von dieser Frage ist …«
»Ja, vielleicht«, sagte Kirsten, nicht überzeugt.
»Oder glaubst du, daß Hugo dich nicht liebt, nur weil ihr keine Kinder miteinander habt?«
»Er würde mich mehr lieben, wenn ich ihm eins schenken könnte.«
»Bist du dessen so sicher? Dann solltest du ihn stehenlassen … dann ist es nämlich nicht die wahre Liebe, dann sieht auch er in dir nur die Gebärmaschine, die …«
»Nein, Astrid, nein, so ist das nicht«, unterbrach Kirsten sie mit unerwarteter Energie. »Er liebt mich schon, aber er möchte eine Familie haben … jeder Mann möchte eine Familie haben. Söhne, Töchter.« Sie schluckte. »Und ich würde ihm diesen Wunsch erfüllen, wenn ich es könnte. Auch wenn ich mein Leben dafür aufs Spiel setzen müßte.«
»Du bist ja verrückt«, sagte Astrid angewidert. Sie wandte sich zur Tür.
Kirsten lief ihr nach. »Glaubst du wirklich, Frau Overhoff muß sterben?«
»Davon habe ich nichts gesagt. Nur daß bei ihr ein dritter Kaiserschnitt lebensgefährlich sein kann.«
»Aber dann …«
»Das ändert gar nichts. Auch wenn sie durchkommt … und ich wünsche es ihr, bei Gott … bleibt diese Geburt ein verbrecherischer und ungeheuerlicher Wahnsinn!«
Auch Dr. Rainer Schumann dachte, während er am Pförtner der Klinik vorbeieilte und die Treppen hinauflief – der Aufzug war nicht unten gewesen, und er war viel zu ungeduldig, um auf ihn warten zu können –, mit Sorge an die bevorstehende Operation. Aber er sah den Fall mit ganz anderen Augen. Nicht einen Augenblick lang dachte er daran, ob es richtig oder falsch war, daß Susanne Overhoff dieses dritte Kind haben wollte, oder ob der Professor es vielleicht nicht dazu hätte kommen lassen sollen – für ihn war Susanne Overhoff eine werdende Mutter, die seine Hilfe brauchte, nichts weiter. Eine Patientin, so wichtig wie jede andere, obwohl ihr Fall natürlich besonders kompliziert lag. Er hatte es ja immer nur mit den schwierigen Fällen zu tun, denn bei den komplikationslosen Geburten genügte die Hilfe einer Hebamme.
Er atmete tief, der Geruch der Klinik war um ihn – dieses vertraute Gemisch aus menschlichen Ausdünstungen, scharfen Desinfektionsmitteln und Bohnerwachs. Die Frauenklinik war seine Welt, hier gehörte er hin, hier fühlte er sich wohl.
In seinem Sprechzimmer im ersten Stock zog er seine Jacke aus, wusch sich die Hände, schlüpfte in seinen Kittel und knöpfte ihn zu, während er schon wieder weiterlief. Als er an der Teeküche auf der Privatstation des Professors vorbeistürmte, kam Oberschwester Helga heraus.
»Guten Abend, Herr Oberarzt! Das ist aber schnell gegangen!«
»Hatten Sie etwas anderes von mir erwartet?« erwiderte er und konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie leicht in die feste, wohlgerundete Wange zu kneifen.
Sie nahm es ihm nicht übel. »Der Herr Professor erwartet Sie schon«, sagte sie und begleitete ihn den Gang hinunter.
»Wie steht’s?«
»Die ersten Wehen. Im Abstand von 30 Minuten.«
»Sehr schön. Lassen Sie die Sectio vorbereiten. Je eher wir es hinter uns haben, desto besser. Wer hat Nachtdienst?«
»Dr. Bley.«
»Rufen Sie ihn an. Und lassen Sie nachschauen, ob Dr. Gerber im Haus ist. Ich brauche ihn und den Anästhesisten. Wenn nötig, holen Sie die beiden per Funk herbei, ja?«
»Wird gemacht.«
»Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Helga.«
Dr. Schumann blieb vor dem Eckzimmer auf der Privatstation stehen, in dem Susanne Overhoff lag. »Sagen Sie bitte Bescheid, wenn wir anfangen können.«
»Ja, Herr Doktor!« Eine Sekunde lang blieb die Oberschwester vor Dr. Schumann stehen, als ob sie noch etwas sagen wollte. Dann besann sie sich, drehte sich um und lief davon.
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