Oberarzt Dr. Rainer Schumann nahm nicht an der Beerdigung teil. Ihn hatte das Los dazu bestimmt, »die Festung zu halten«, wie Dr. Gerber es nannte, und er hatte diese Entscheidung mit kaum verhüllter Erleichterung zur Kenntnis genommen.
Seit er als Student am Seziertisch lernen mußte, Muskeln, Nerven, Hirn und Organe von Leichen zu präparieren, war es ihm nie mehr gelungen, in einem Toten, solch einem entseelten Stück Fleisch, einen Menschen zu sehen. Deshalb hatte für ihn auch der starre kalte Körper, der heute in einer feierlichen Zeremonie ins Grab gesenkt wurde und bald in Verwesung übergehen würde, nichts mehr mit der lebenden, gütigen Susanne Overhoff zu tun, deren Bild er für alle Zeiten in der Erinnerung behalten wollte.
Dr. Schumann war viel zu stabil, als daß ihn der tragische Tod dieser Frau hätte aus dem Gleichgewicht werfen können. Aber er war tief beunruhigt. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, jene verhängnisvolle Operation immer wieder in allen Einzelheiten durchzudenken, ehrlich bemüht, den Ansatzpunkt eines menschlichen Versagens, eines Irrtums oder Fehlers zu finden. Obwohl er sich mit gutem Gewissen freisprechen konnte, gelang es ihm nicht, die heftigen Anklagen seiner Frau einfach abzutun. Ein Unbehagen blieb.
Seit jener nächtlichen Szene hatten Astrid und er nur noch das Nötigste miteinander gesprochen. Eine Kluft war zwischen ihnen aufgebrochen, über die keine Brücke mehr zu führen schien.
Während draußen auf dem Nordfriedhof das Begräbnis stattfand, machte er eine kurze Visite, ohne großen Stab, nur von einer Schwester begleitet. Er besaß die Fähigkeit, Menschen zum Sprechen zu bringen und sie anzuhören – einer der Gründe, warum die Patientinnen ihn liebten. Aber diesmal verhielt er sich kurz angebunden, fast schweigsam, stellte nur die allernotwendigsten Routinefragen. Er las in den fragenden Augen der Patientinnen den Wunsch, über den Tod der Frau des Professors mit ihm zu reden, und gerade das wollte er natürlich auf jeden Fall vermeiden.
Später ging er ins Kinderzimmer der Privatstation – allein, denn die wenigen Schwestern, die an diesem Nachmittag in der Klinik geblieben waren, hatten alle Hände voll zu tun. Zwanzig Bettchen, von denen augenblicklich zwölf belegt waren, standen in diesem sehr hellen, freundlichen Raum. Die Säuglinge hatten ihre dritte Fütterung hinter sich und schliefen nun satt und zufrieden. Nur Karin, ein acht Tage altes kleines Mädchen, das morgen mit seiner Mutter entlassen werden sollte, bewegte die winzigen Hände und babbelte vor sich hin. Dr. Schumann ging das Herz auf. Der scharfe Desinfektionsgeruch konnte den warmen, atmenden Duft jungen Lebens nicht verdecken. Er schritt von Bett zu Bett. Zwei der Säuglinge zeigten eine leichte Gelbverfärbung. Das war normal. Der sogenannte Ikterus neonatorum tritt bei drei Viertel aller Kinder in der Neugeburtszeit auf. Als aber Dr. Schumann an das Bettchen eines am vergangenen Abend geborenen kleinen Jungen kam, stutzte er. Die Haut des Kleinen war stark verfärbt, zeigte ein tiefes Gelb, das fast schon ins Bräunliche ging. Die Säuglingsgelbsucht war zu früh und zu heftig aufgetreten.
Er warf einen Blick auf die Tafel über dem Bett, las den Namen der Mutter. Inge Weyrer. Alle Anzeichen wiesen auf eine Blutkrankheit des Säuglings hin.
Im Bettchen gleich nebenan lag der Sohn Professor Overhoffs, ein kräftiges Kerlchen mit einem ungewöhnlich gut ausgebildeten Schädel. Es schlief tief und fest, die winzige Faust an die Wange gepreßt, unschuldsvoll und ahnungslos, ein Neugeborener wie Millionen andere – und doch schon im Augenblick der Geburt vom Schicksal gezeichnet. Er würde ohne Mutterliebe aufwachsen, würde nie jene zärtliche, behütende Fürsorge spüren, die jedes junge Wesen ebenso dringend braucht wie Licht, Luft, Wärme und Nahrung. Und eines Tages würde er erfahren, daß er mit seinem Leben das der Mutter vernichtet hatte, ohne Wollen und Wissen, vom ersten Atemzug an mit tragischer Schuld beladen.
Dr. Schumann richtete sich auf, als die Tür zum Säuglingszimmer aufgerissen wurde. Schwester Patrizia wirbelte herein, atemlos, das Häubchen schief auf den blonden Locken. Als sie den Oberarzt sah, vertiefte sich das Rot ihrer Wangen. »Oh«, stieß sie verlegen hervor, »entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor! Ich … die Beerdigung …«
»Aber ich weiß ja«, sagte Dr. Schumann ruhig, »Sie waren beurlaubt …« Er sah, wie sie nervös an ihren Schürzenbändern nestelte, wie ihre Finger zum Kopf tasteten, um das Häubchen geradezurücken, und irgend etwas trieb ihn dazu, sie zu reizen. »Na, ich hoffe, Sie sind wenigstens auf Ihre Kosten gekommen … oder?« fragte er.
»Auf meine …?« wiederholte sie arglos, dann erst begriff sie, sagte bestürzt: »Aber nein! Wie können Sie denken!«
Er betrachtete sie nicht ohne Wohlgefallen. Sie hatte ein pikantes kleines Gesicht mit großen runden, kindlichen Augen und eine gutgewachsene Figur mit sehr schmaler Taille. Sie wirkte wie ein sehr junges Mädchen, doch wußte er, daß sie vierundzwanzig Jahre alt war; eine tüchtige und bei aller äußerlichen Verspieltheit durchaus zuverlässige Schwester auf der Säuglingsstation.
»Entschuldigen Sie«, sagte er betont gelassen, »wenn ich Ihnen unrecht getan habe.«
Sie holte tief Luft. »Herr Doktor!« Dann änderte sie unvermittelt den Ton, zeigte lächelnd runde Grübchen. »Na ja, ein bißchen stimmt’s schon. Neugierig sind wir Frauen ja alle, und wir Schwestern, fürchte ich, ganz besonders. Aber ich bin froh, daß ich dort gewesen bin. Wenn Sie den Pfarrer gehört hätten … er sprach wirklich wundervoll.«
›Das ist sein Beruf‹, hätte er beinahe gesagt, aber er verkniff sich diese Bemerkung.
Schwester Patrizia nahm sein Schweigen als Interesse. »Er hat genau gesagt, was ich selbst gefühlt habe«, plauderte sie, während sie mit flinken Fingern Stöße von Windeln, Hemdchen, Jäckchen zu sortieren begann, »nur hätte ich es nie so formulieren können. ›Diese Mutte‹ – hat er gesagt, »brachte das größte Opfer, das ein Mensch überhaupt bringen kann. Sie hat ihr eigenes Leben hingegeben, um die Seele ihres Kindes ans Licht zu bringen …!‹ – und, nicht wahr, das stimmt doch? Es muß wunderbar sein, so sterben zu dürfen … einen so sinnvollen Tod!« Sie hielt in der Bewegung inne und sah Dr. Schumann an.
»Wenn man es so sieht …«, sagte er schwach.
»Aber man kann es doch nur so sehen!« rief sie eifrig.
»Die Frau Professor hat ja gewußt, daß sie ihr Leben aufs Spiel setzte … sie hat es freiwillig und ganz bewußt hergegeben, um …« Sie unterbrach sich. »Mir fehlen die richtigen Worte, aber es ist bestimmt das Größte, das eine Frau tun kann.«
Er beobachtete sie mit Interesse. »Glauben Sie, daß Sie es auch können?«
»Ich!? Nein … o nein. Dazu bin ich viel zu … zu egoistisch, sie, die Frau Professor, war eine Heilige. Aber verstehen kann ich es. Kinder zu bekommen ist das Wunderbarste, was es gibt.«
Wie eine Vision sah Dr. Schumann Astrid vor sich, erinnerte sich ihrer heftigen Worte, ihres Entsetzens, ihres Abscheus. Aber ganz rasch schüttelte er dieses Bild von sich ab, ärgerte sich über sich selber, daß er seine Frau mit dieser jungen Schwester verglich.
»Dann wundert es mich, daß Sie noch nicht ans Heiraten gedacht haben«, sagte er gewollt spöttisch.
Sie lächelte zu ihm auf. »Ich tu’s dauernd«, bekannte sie, »aber den Richtigen habe ich noch nicht gefunden. Meine Mutter sagt immer man kann den Vater seiner Kinder gär nicht sorgfältig genug auswählen!«
Die Tür öffnete sich, Frau Dr. Holger trat ein, Dr. Schumann glaubte zu fühlen, daß er rot wurde. Hatte er ein schlechtes Gewissen?
»Gut, daß Sie kommen, Frau Kollegin«, sagte er rasch, »sehen Sie doch, bitte, den kleinen Weyrer einmal an … sieht wie ein Rhesus aus. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie eine Blutabnahme durchführen und die Probe sofort ins Labor geben würden.«
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