– Man darf sie niemals ärgern, ebensowenig wie die Kühe. Denn es kann sein, daß sie dann beide nicht mehr geben.
Jemanden zu hänseln oder zu ärgern – manchmal die einzige Abwechslung, wenn es sonst gar nichts zu tun gab war in den Augen meiner Mutter das reinste Gift. Dabei sah es doch ganz so aus, als freue der Mensch den Menschen nur auf eine Weise, nämlich durch gegenseitige Provokation. Ein Mann fordert den anderen heraus und macht ihn fertig, wenn der es zuläßt und nicht selbst schneller ist. Frauen dagegen beglücken einander mit Eigenlob, ihren Krankheiten, vorgetäuschter Liebenswürdigkeit und übler Nachrede, die sie anstelle eigener Meinungen und Urteile weitergeben und auch in schwierigen Fragen und in der Politik bevorzugen. All diese Eigenschaften waren und sind vor allem der gut verhohlene Drang mancher Männer und Frauen, auf andere loszugehen. Frauen jedoch fühlen sich im Recht und meinen, aus diesem Gefühl heraus besonders Männer und Kinder zurechtweisen zu dürfen, andere Frauen aber mit der heiligen Wahrheit, die im boshaften Klatsch liegt.
Mama entschied sich wie in anderen Dingen gegen das Einfache oder das, was andere taten. Also durften wir das Meer nicht ärgern, ihm nichts Böses andichten, mußten so tun, als wären wir auf unserem täglichen Marsch über den schlechteren Weg in Gefahr geraten, dabei froh den Hang unterhalb des Hafenhauses hinabhüpfend. Dort lag eine tiefe Senke mit flachem Grund, aber steilen und schwer zu erklimmenden Rändern. Hatten wir sie hinter uns, stolperten wir, auf schon ein wenig müden Beinen, den nächsten Abhang hinab. Trotzdem war es bis dahin noch ganz lustig. Dann aber kam nur noch Plackerei. Es war unendlich mühevoll, in die nächste Senke hinab und wieder heraus zu klettern, dann kam der schmale Saumpfad mit Blick aufs Meer, in das wir nicht einmal Steinchen werfen durften.
Es mag ja noch Spaß machen, in so eine Senke hineinzulaufen, aber ihr größter Nachteil ist, daß man auch wieder heraus muß, schließlich will niemand sein Leben lang in einer Senke festsitzen, und die Löcher rund um Höfn waren gräßlich. Dazu kam, daß wir bei jedem Wetter in unförmig steifen schwarzen Regenmänteln gehen mußten, die stets ein paar Nummern zu groß gekauft wurden, damit wir nicht zu schnell aus dieser teuren, aber notwendigen Schutzkleidung herauswuchsen. Wenn sich im Frühling einmal die Sonne sehen ließ und auch ganz sicher kein Wachstuchmantelwetter im Anzug war, wurde Firnis auf den Stoff aufgetragen, damit er wasserdicht blieb. Dann wurden die Mäntel zum Trocknen auf die Leine gehängt. Da baumelten sie am Kragen in blassem Sonnenschein und Sturm und schaukelten hierhin und dorthin oder zappelten heftig wie der Leib eines Gehenkten am Strick. Wenn wir sie wieder überzogen, knarrten sie laut oder quietschten, wenn sich das ölgetränkte Gewebe so am Fleisch festsog, als sollten wir es nie wieder abbekommen und darin sterben, erstickt wie Herkules, der so dumm gewesen war, das Nessusgewand überzuziehen. Die Sagen, von denen man hörte, gewannen an Bedeutung, wenn sie einen Bezug zum eigenen Leben erhielten. Der Regenmantel aber duftete, und es fühlte sich toll an und gab einem ein künstlerisches Gefühl, den Geruch des frisch gewachsten Mantels tief einzuatmen.
Stets mußte man den Mantel anhaben oder ihn wenigstens über dem Arm tragen. Mutter sagte:
– Es kann immer mal einen Schauer geben.
Oder es konnte jederzeit Südwestwind aufkommen und ernsthaft zu regnen anfangen. Wir gehorchten und wußten, daß man allemal leichter im Regenmantel ging als in vollgesogenen und durchgeweichten dicken Wollsachen. Meine gesamte Kindheit verbrachte ich in einer wächsernen Hülle.
Noch immer sehe ich meinen ersten schwarzen Mantel plitschnaß von Niesei oder Regen vor mir. Nicht weil mich auf dem Weg mit dem Essen ein Schauer überraschte, sondern weil es in meiner Erinnerung pausenlos regnete, bis der Zweite Weltkrieg ausbrach und auch armen Leuten etwas Sonnenschein in Form von barem Geld brachte sowie die Kenntnis einer besseren, wenn auch kriegerischen Welt jenseits unseres ruhigen, endlos weiten Meeres. Mit der Ankunft der Soldaten stellten sogar die Kinder fest, daß es erwachsene Menschen in der Welt gab, die nicht nur das eine Vergnügen kannten, Kinder zu ärgern, zu zwicken, an den Ohren zu ziehen, ihnen eine Kopfnuß oder eine Abreibung zu verpassen oder ihnen mit der Schuhspitze in den Hintern zu treten und zu fragen:
– Gefällt dir das und meinst du, ich könnte es deiner Mutter auch mal schnell besorgen?
Das Seltsame, das einen manchmal ganz durcheinanderbrachte, war der Widerspruch, daß die netten Ankömmlinge Soldaten waren, zu nichts anderem zu gebrauchen, als mit ihren Waffen andere Soldaten umzubringen. Im Ausland also freute der Mensch den Menschen in andauernden Kriegen; da war das gegenseitige isländische Hänseln doch besser. Das war die allgemein verbreitete Meinung über die Ankunft der Besatzungsarmee. In den Köpfen der Kinder aber stellte sich die Frage: Wenn schon Soldaten so freigebig Schokolade und Freundlichkeiten austeilten, wie mochten dann erst die übrigen Menschen sein, die nicht in der Armee dienten, sondern in ihren Heimatländern ein friedliches Leben führten und nichts weiter im Sinn hatten, als mit gut riechender Schuhcreme ihre Schuhe zu putzen, sich den Wohlgeruch glänzender Brillantine ins Haar zu reiben und dann aus ihren grünen Zelten zu treten, um in der Abendruhe eine ebenfalls duftende Zigarette zu rauchen?
Es war kaum vorstellbar, daß solche Menschen sich einen Spaß daraus machten, auf kleinere Kinder zu pinkeln, damit sie merkten, wie salzig, süßlich, bitter und warm ihr Urin nach Tüchtigkeit schmeckte.
Was früher eine unbestimmte Vermutung gewesen war, wurde zur Gewißheit: Jenseits des Meeres, das wir als kleine Kinder so gern ärgern wollten, lagen andere, zivilisiertere Welten, viel besser als die friedliche, in der wir lebten, auch wenn sich die Menschen dort im Krieg befanden. Die Konvois von Kriegsschiffen, die südlich von Nes am Horizont entlangfuhren, zeugten davon.
Ich stand oft mit Blick über die Brandung am Ufer und hielt nach dem Unbekannten Ausschau, ehe ich mit einem Stock in den Tangbüscheln danach zu stochern begann, ob nicht ein wertvolles Bruchstück jener verborgenen Welten an Land gespült worden war, und sei es nur eine Flasche mit einem seltenen Verschluß. Wenn man ihn öffnete, wäre vielleicht noch der Rest eines wunderbaren Dufts darin. Vielleicht fand sich sogar eine Glühbirne – obwohl wir nicht einmal wußten, was das überhaupt war – oder eine Dose mit schwarzer Schuhwichse, oder man hatte womöglich einmal das unverschämte Glück, daß ein Kriegsschiff explodiert war und Dinge aus seinem Wrack angespült wurden. Üblicherweise fanden wir nur den einen oder anderen Seehasen als eine Art Entschädigung des Gaumens für all das Entgangene.
In der Bucht unterhalb des Saumpfads fand diese Suche erst viel, viel später statt. Der Untergrund war noch immer, wie er vom Anbeginn der Wege an gewesen war, mit vereinzelten harten Grasbüscheln bewachsener sandiger Erdboden. Es war kein Ton zu hören, außer den Geräuschen der Natur, dem Brausen des Seewinds und dem Geschrei der Vögel. Maschinengeräusche hatten die Ruhe noch nicht gebrochen. Am Ende des letzten Abhangs tasteten wir uns vorsichtig um den Rand einer Felsnase und kamen in eine tiefe sandige Mulde voll mit wurmstichigem, von der See geschliffenem Treibholz, dicken Stämmen und dürren Ästen, die mit viel Phantasie nach fernen Ländern dufteten. Dieses weiße Holz war nicht über das Meer getrieben, um in unserem zukünftigen Herd verfeuert zu werden, sondern es gehörte dem Grundbesitzer, der auch das Strandrecht besaß. Etwas vorgelagert befanden sich Felsnischen mit steilen Wänden, in denen sich ohne Unterlaß mit heftigem Getöse die Wellen brachen und diejenigen mit schäumender Gischt übersprühten, die sich auf die Steine hinauswagten. Wenn wir allein waren, hatten wir unseren Spaß daran, diesen Schaum auf unsere wasserdichten Mäntel spritzen zu lassen, die so weit geschnitten waren, daß wir sie über die Köpfe ziehen und uns geschützt darunterkauern konnten, um trockenen Fußes zu hören, wie die See auf das Wachstuch einprasselte.
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