Mehr als nur einmal musste auch Kerschkamp in die Ecke, der trotz der getönten Brille offenbar ebenfalls etwas in seinem Blick hatte, was Kunze nicht gefiel. Dann grinsten sie sich heimlich zu und schnitten Grimassen, während Kunze seine Noten an die Tafel malte. Nur irgendwelche Liedtexte mit frei erfundenen Reimen zu verballhornen, trauten sie sich bei Kunze nicht.
Zu Hause kaufte Appaz’ Mutter dem wohl gänzlich unmusikalischen Sohn in ihrer Not eine teure Hohner-Mundharmonika. »Unsere Lieblinge« war auf derbraunroten Pappschachtel zu lesen, links und rechts des Schriftzuges waren in einem Oval die glücklichen Gesichter zweier Frauen zu sehen, die durchaus Ähnlichkeit mit Appaz’ Mutter hatten. Die Rückseite zeigte das Foto eines Mundharmonika-Orchesters. Eine der Mundharmonikas war gut einen Meter lang und auf einem Stativ angebracht, der Spieler bewegte sich freihändig vor der Riesenharmonika hin und her. Auch Appaz’ Mutter hatte früher beim »Bund Deutscher Mädel« Mundharmonika in einem Orchester gespielt. In einem Kriegslazarett, in dem schwer verwundete Wehrmachts-Soldaten für den nächsten Einsatz an der Front zusammengeflickt wurden und ein wenig Freude in all dem Elend bitter nötig hatten, wie Appaz’ Mutter gerne erzählte.
Seiner Mutter zuliebe versuchte sich Appaz mehrere Nachmittage lang an »Hänschen klein«, bis ihnen beiden klar wurde, dass die Mühe vergeblich war.
Kaum besser erging es Appaz im Sportunterricht. Zu Beginn war Appaz noch stolz gewesen auf sein neues Turnzeug, blau und mit dem silbern glänzenden Emblem des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums, das seine Mutter ihm sorgfältig aufs Hemd genäht hatte. Aber schon in der ersten Stunde stellte sich heraus, dass die Hosenbeine zu weit geschnitten waren und kaum Halt für die Pennäler-Pimmel boten, so dass bei jeder unachtsamen Bewegung alles zu sehen war. Entgegen der eindeutigen Anweisung von Sportlehrer Zint trugen die meisten von ihnen ihr Turnzeug fortan mit einer Unterhose darunter, nur Klaus-Dieter schien das völlig egal zu sein, er zog seine blaue Turnhose sogar nachmittags zum Spielen an, ohne sich darum zu kümmern, dass sein kleiner Sack deutlich sichtbar aus dem Hosenbein baumelte.
Die Sportstunden liefen alle nach dem gleichen Schema ab. Zunächst mussten sie zehn Minuten im Kreis hintereinander her durch die Halle rennen, danach wurde Sitzfußball gespielt. Appaz fand Sitzfußball von Anfang an einfach nur albern. Er versuchte, möglichst unauffällig auf der einmal eingenommenen Position zu bleiben und darauf zu warten, dass der Ball zufällig in seine Richtung rollte. Aber Zint erkannte solche »Drückeberger« sofort und benutzte sein Schlüsselbund, um mit einem gezielten Wurf Appaz und andere »Weicheier« zu mehr sportlicher Leistung anzustacheln.
Der eindeutige Held des Sportlehrers war Buchmann, der begeistert mit seinem Hintern den Hallenboden polierte und mit Abstand die meisten Tore schoss. Weshalb Buchmann dann auch als Auszeichnung in der großen Pause, während die anderen sich in dem stickigen Umkleideraum aus ihren verschwitzten Klamotten quälten, zum nächsten Kiosk sprinten durfte, um Zint sein tägliches Päckchen Roth-Händle zu besorgen.
Zint unterrichtete die älteren Schüler auch in Latein, die Unterstufenschüler kamen zunächst nur in den Genuss des zur Eröffnung jeder Sportstunde zitierten Satzes des römischen Dichters Juvenal, mens sana in corpore sano. »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, schreibt euch das hinter die ungewaschenen Ohren, ihr kleinen Schwachmaten!« Zint wohnte ein Stück von Hannover entfernt, in Wunstorf. Nurminski erzählte den anderen, dass in Wunstorf die größte Irrenanstalt Deutschlands sei, was sie alle sehr beeindruckte. Hinter vorgehaltener Hand machten sie bösartige Kommentare, die sich auf den aus dem Wohnort abzuleitenden Geisteszustand des Sportlehrers bezogen.
Im Kunstunterricht malten sie das erste Schuljahr über nur bunte Bilder, bei denen sie die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Farben mit Wasser verlaufen lassen sollten, was Appaz recht gut gelang. In der sechsten Klasse klebten sie dann Herbstblätter, die sie nachmittags im nahen Stadtwald sammelten, zu braungelb-roten Collagen. Zum Schutz sollten sie die Collagen mit durchsichtiger Folie abdecken und diese Folie dann auf der Rückseite mit Tesafilm befestigen. Schon nach kurzer Zeit fingen die Blätter unter der Folie an zu schwitzen und bildeten bald interessante Schimmelformationen, woraufhin Appaz’ Mutter die gesammelten Kunstwerke ihres Sohnes kurzerhand in den Müll entsorgte.
Der Kunstlehrer hieß Schleicher und war auffallend klein, zumindest Buchmann überragte ihn schon um gut einen halben Kopf. Schleicher war deutlich jünger als die anderen Lehrer, vielleicht gerade mal dreißig. Er hatte einen sauber ausrasierten Kinnbart und trug, dem Image des Künstlers entsprechend, mit Vorliebe großkarierte Hemden und manchmal sogar eine Jeans, wenn auch mit Bügelfalte. Wenn Schleicher den Zeichensaal betrat, brachte er grundsätzlich eine Wolke von Zigarettenqualm und stechendem Schweißgeruch mit herein.
Trotz seiner Jugendlichkeit und der legeren Kleidung beherrschte er jedoch den am Gottfried-Wilhelm-Gymnasium üblichen Katalog an Strafmaßnahmen. Seine ganz persönliche Ergänzung bestand darin, unaufmerksame Schüler an die Tafel zu holen, sie mit dem Kopf parallel zu der Ablageschiene für die Kreide auszurichten und sie dann mit einem Stoß gegen die Kante zu rammen. Ihrer Größe entsprechend knallten die meisten von ihnen genau mit dem Ohr auf die Kante.
Appaz war froh, als Schleicher ihn in die »freiwillige Arbeitsgemeinschaft für Flugmodellbau« wählte, bei der sie einmal in der Woche am Nachmittag zuvor mit Hilfe einer Schablone aufgezeichnete Flugzeugteile aus Balsaholz ausschnitten und zu sogenannten »Gleitern« zusammenklebten, die meist spätestens beim »Luftkampf« im Werkraum wieder zu Bruch gingen. Aber wer in Schleichers freiwilliger AG war, gehörte zu seinen Lieblingsschülern und lief damit deutlich weniger Risiko, sein Ohr gegen die Tafelkante geknallt zu bekommen. Auch Kerschkamp war in der AG, genauso wie Klaus-Dieter, der von nun an nicht mehr nur die Haut von seinen Fingerkuppen kaute, sondern auch dicke Lagen von Uhu-Hart.
Appaz’ Mutter war stolz auf Appaz’ neues Hobby, sie selber war nach dem Krieg mehrmals auf der Wasserkuppe mit einem Segelflugzeug mitgeflogen und beschrieb Appaz begeistert das unglaubliche Gefühl, über den Wolken dahin zu gleiten. Unverzüglich versuchten sich Appaz und Kerschkamp denn auch zu Hause an einem Segelflugmodell, bei dem die Balsaholzgerippe der Tragflächen mit dünnem Papier bezogen und mit einem Speziallack behandelt wurden, wodurch sich eine zum Zerreißen straff gespannte Fläche bildete. Das Modell hieß laut Aufschrift auf dem Bausatz »Sonny« und stürzte bei einem ersten Testflug trudelnd in ein Dornengestrüpp, das die Bespannung unwiderruflich zerfetzte.
Aber zum ersten Mal schien auch Kerschkamps Vater irgendeinen Sinn in dem zu sehen, was sein Sohn in der Schule trieb. Das nächste Modell bauten Appaz und Kerschkamp dann unter seiner Anleitung - und tatsächlich war es deutlich flugtauglicher und ließ die Zuschauer auf der Wiese spontan Beifall klatschen, als es sich in eleganten Kurven mit dem Wind immer höher schraubte.
Noch stolzer aber war Appaz’ Mutter, als er aus dem Deutschunterricht eine Eins mit nach Hause brachte, für eine Kurzgeschichte, die sie bei Dr. Strotzeck geschrieben hatten. Auch Dr. Strotzeck war Oberstudienrat, für Deutsch und Religion. Er war so alt, dass er schon im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen war, im Religionsunterricht aber erzählte er vor allem aus dem Zweiten Weltkrieg, den er ebenfalls mitgemacht hatte. Er ließ sie gerne teilhaben an der einen oder anderen Erfahrung »mit dem Russen«, der nach der Besetzung von Berlin zum ersten Mal ein Wasserklosett sah und keine Ahnung hatte, wofür es gedacht war. Weshalb er dann seine Kartoffeln in der Kloschüssel wusch und schließlich entgeistert feststellte, dass nach Betätigen der Spülung die Kartoffeln auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren.
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