„Schon recht“, unterbrach der Freiherr, „das kennen wir alles. Fragt sich aber, was Er weiß!“
„Ich bin Theologe, wiewohl kein fertiger Pfarr’“, kam die Antwort kleinlauter, „und beherrsche die griechische und lateinische Sprache, Französisch hab ich mir eingetan, Orgel spiel’ ich und das Clavizimbel, auch Harfe und Gitarre und Flöte.“
„Da ist Er ja mehr ein Musikus denn ein Lehrer?“ „Sprache und Stil üben ist meine Freude – bin im Briefwechsel mit dem Wieland aus Biberach und dem Haug und Böckh …“
Dem Baron sagten die Namen nichts. „Kann er überhaupt mit kleinen Mädchen umgehen? Die meinen sind zwölf und acht, Mann!“
„Ich hab’ selber ein Julchen“, erklärte der Besucher scheu und leuchtete auf dabei, „ein herzig’s Ding! Lernt grad laufen! Und ein Söhnchen hab’ ich auch, Ludwig.“
„So, so“, machte Bernerdin und schaute sich den möglichen Lehrer seiner Töchter genau an. „Und wie kommt Er vom Schuldienst frei?“
„Das ist keine Sorge, Herr Baron, das ist wie der Aufflug eines Vögleins aus der Misere, aus dem engen, dreckigen Nest unterm Stalldach – das will ich schon schaffen!“
Er müsse aber doch noch Zeugnisse haben, sagte der Freiherr, über Gebaren und Lebenswandel und sittliche Führung, und seine religiöse Stellung sei wichtig, da er ja anscheinend die Theologia nie ganz zu Ende geführt habe – wieder streifte ein herrischer Blick den Bittsteller –, „und, Er sieht mir aus, als sei Er dem Glase nicht abhold gesonnen!“
Schubart wurde rot; er ärgerte sich. „Ich bin ein Dichter, halten zu Gnaden, hab’ bekannte Poema drucken lassen und bin auch Organist und Chorleiter; mein Schwieger ist der Oberzoller von Geislingen, ein geachteter Mann …“
„Hab’s gehört“, brummte Bernerdin. „Mit denen Poeten hab ich nicht die besten Erfahrungen gemacht!“
Franziska mischte sich erschrocken ein. Es wäre doch gut und hilfreich für die Mädchen, wenn sie einen so vielseitigen und vielbekannten Mann zum Lehrer bekämen, meinte sie drängend.
Der Vater nickte; er wolle die Mutter noch fragen. Schließlich kam ein freundlicheres Gespräch zustande, bei dem nur die Lohnfrage noch nicht ganz geklärt war. Immerhin verlangte Schubart auch eine Wohnung für seine Familie. Und leben müsse er halt, leben! sagte er ganz schwäbisch und dehnte die Arme. Und so wolle er also wieder heimreisen und warten, bis ihm der Freiherr Bescheid gebe; er werde indessen mit seinem Rektor reden.
Im Hinausgehen fiel ihm ein Clavichord auf, das in der Zimmerecke stand; es wurde nie gebraucht, war ein altes Familienstück, das Frau von Bernerdin eingebracht hatte und das reichlich heiser zirpte. Aber Schubart stürzte sich darauf in einem jähen Impuls. „Gestatten Sie mir, ein kleines Weilchen zu spielen, Euer Gnaden?“ fragte er flüchtig und saß schon auf einem eilig herbeigezogenen Stühlchen vor dem Instrument.
Bernerdin unterdrückte sein Befremden und, da die Mutter und Franziska nickten, hob Schubart den Deckel auf; seine Schülerinnen hatte er noch nicht einmal gesehen. Während er die Tasten probierend anschlug und den geöffneten Kasten untersuchte, um zu stimmen, traten die Töchter schüchtern ein, Juliane und Eberhardine, beide blond, mit großen Augen, schmal und noch zarter als Franziska und Louise; auch die zeigte sich hinter ihnen.
Und als endlich – man holte bereitwillig Zangen und Hebel – das alte Klavier ein wenig klarer klang, spielte Schubart, hingerissen von den Tonfolgen und Akkorden, die ihm wie eine Quelle unwillkürlich unter den Fingern sprangen, Händelphantasien und eigene Improvisationen, und er hörte erst auf, als Bernerdin sich hörbar räusperte. Dann knicksten die beiden Kinder.
Schubart sah sie kaum an, er grüßte eilig, schob heftig den Stuhl weg und ging so befangen fort, als habe er zuviel von sich preisgegeben.
Später, als Franziska längst wieder in Pforzheim war, fragte sie einmal im Brief nach dem neuen Hauslehrer. Es sei nichts draus geworden, beschied sie die Mutter knapp, der Schwieger Oberzoller aus Geislingen habe sich eingemischt, dem Vater Unerfreuliches über den Eidam mitgeteilt, sich auch geweigert, des Jungen Schulden zu zahlen, die er seiner losen Führung danke, und so habe auch der Dichter resigniert, bitter ungern, wie es in seinem Abschiedsgruß geheißen habe, und sei weiterhin Schulmeister zu Geislingen geblieben, bis sich ihm Besseres zeige.
Am Hof in Ludwigsburg wurde Leutrum nach seiner jungen Frau gefragt. Verdrossen gab er Bescheid, sie sei eben vom Land, und er bemühe sich, sie heranzubilden.
Daraufhin trafen ihn spöttische Blicke; man werde ja sehen, hieß es: entweder sei sie ausnehmend schön oder so häßlich, daß er sie keinem anderen als dem eigenen Auge aussetzen möge. Natürlich hatte man längst durch Bedienstete das Nötige gehört. Leutrum – besorgt um seine Stellung bei Serenissimus – bequemte sich zum Nachgeben, Er schenkte Franziska zum zwanzigsten Geburtstag ein Brillantarmband und bemerkte beiläufig, sie könne es ja bei Hofe zeigen. So ließ sich nicht länger vermeiden, daß die Frau Baronin von Leutrum aus ihrer Verborgenheit hervortrat. Man lud sie, nach Leutrums entsprechenden Andeutungen, „dringlicher als seither“ zu einer Soiree bei Hofe ein.
Zu Ehren des englischen Gesandten war im Januar 1769 ein Galadiner angesetzt worden. Die Leutrums wohnten schon seit ein paar Tagen in ihrem Ludwigsburger Stadthaus. Man hatte eine französische Zofe angestellt, Lisette Touchon, ein schmales dunkelhaariges Wesen, das Franziska mit biegsamer Ergebenheit bediente. Flasch war – stiller als sonst – angetreten und hatte auf ihrem Kopf ein Gebäude aus blonden, duftig gepuderten Locken aufgetürmt, blaue Bänder hineingewirkt und eine Rose aus einer blitzenden Agraffe hervorwachsen lassen. Er war zufrieden mit der Kaskade aus Natur und Künstelei, die ihm gelungen war, und beriet Franziska schüchtern über Wangenpuder und Lippenrot – es dürfe kräftiger sein als das der Männer – und über den charmantesten Punkt für das schwarze Schönheitspflaster. Die Touchon steckte und nestelte an dem gerafften Mieder, strich bewundernd über das Unterkleid aus Silberspitze und den faltigen Überrock aus schwerem Satin; dann führte sie die Hasenpfote puderstäubend über Franziskas Arme. Aus dem Spiegel sah sich die Geschmückte an wie ein buntes Pastell. Sie wußte, daß sie nicht eigentlich eine Schönheit war: Nase und Lippen waren „un peu trop“, wie Leutrum einmal taktlos bemerkt hatte, der Mund zu groß, die Nase eine Idee zu lang, ihre Flügel zu voll. Aber große, schimmernde Augen überstrahlten das alles und machten es unwichtig.
Franziska wandte sich vom Spiegel ab. Sie kannte sich selber noch nicht, mit zwanzig Jahren. Sie lebte nicht ihr eigenes Leben, hineingeworfen in ein völlig fremdes Dasein wie in widriglaue Luft. Immer noch, immer wieder sträubte sie sich dagegen, verwies sich ihren Abscheu, versuchte sich zu fügen. Sie sah sich wieder an. Wenn sie mit einem lieben, wohlgeratenen Mann zum Ball gehen dürfte! Sie hätte zwar keinen von Leutrums Freunden neben sich haben mögen, keine der höfisch gedrillten Kreaturen, die er gelegentlich zu einer Partie Tarock heimbrachte …
Sie drehte sich halb um. „Fertig, Lisette?“
Die Zofe hatte noch dies und das zu verbessern, wischte rasch über die weißseidenen Schuhspitzen, den rüschenbesetzten Rocksaum, dann verneigte sie sich und trat zurück.
„Oh, comme vous êtes belle, Madame!“
Franziska lächelte gutmütig. Sie schaute noch einmal in den Spiegel. Hinter ihr trat Leutrum herein; sie grüßte ihn mit einem steifen Nicken. Er trug das Haar hochtoupiert und schneeweiß gepudert, das gelbe Gesicht war noch fahler als sonst über seinem Frack von leuchtend violetter Seide. Er hatte Schmuck angelegt, Ringe, Busennadeln, zwei kostbare Sterne am Rock. Ironisch lächelnd verbeugte er sich, so weit es sein Buckel noch erlaubte, und bot seiner Frau den Arm.
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