»Ich kann dir sagen, wer die waren, Hirka. Einer davon war ein gedungener Gewohnheitsverbrecher, vor dem nun niemand mehr Angst haben muss. Bei dem anderen bin ich mir nicht sicher, aber das wird sich noch herausstellen. Der Dritte …« Er sah Hirka fast flehend an, als hätte sie ihn zum Reden gezwungen. »Er war früher auch einmal ein Mann. Bevor er ein Raubtier wurde. Ein Blutsklave. Krank.«
Isac.
Hirka brauchte nicht zu fragen. Es gab keinen Zweifel, wen er meinte.
»Er hatte sich mit etwas angesteckt. Etwas, das sich über Generationen verbreitet hat. Die Bescheid wissen, halten die Klappe, denn das ist eins dieser Dinge, von denen wir nichts wissen sollen, verstehst du? Man macht das, was man kann, oder? Ich jage sie, schon seitdem ich ein Teenager war.«
Er lief jetzt im Zimmer auf und ab. Hob Gegenstände an und stellte sie wieder hin. Suchte nach Worten. »Sie nennen sich Vardar. Ich habe sie bis hierher verfolgt und sie verfolgen dich. Zuerst dachte ich, du gehörst zu ihnen, aber du bist gesund, oder? Und trotzdem sind sie hinter dir her. Ich kapiere nur nicht, warum.«
Er redete zu schnell und benutzte zu viele neue Wörter, als dass sie alles verstand.
»Was ist ein Blutsklave?«, fragte sie.
Er blieb stehen und schaute sie wieder an. »Einer, der schon längst hätte tot sein müssen, aber immer noch lebt, weil jemand das so will.«
»Wer will das so?«
»Das rauszufinden versuche ich schon mein ganzes Leben. Würde ich die Quelle kennen, dann würde ich hier nicht meine Zeit vergeuden. Ich weiß nur eins mit Sicherheit, nämlich dass er kein Mensch ist.« Stefan setzte sich wieder hin. »Und es macht mir Sorgen, dass du jetzt nicht lachst oder mich anguckst, als wäre ich aus einer Anstalt getürmt. Was sagt das eigentlich über dich aus? Dass du keine Angst vor dem Unmenschlichen hast?«
Sie konnte ein Lachen nicht zurückhalten. Er schaute sie forschend an. Es war schwierig, in Worte zu fassen, wie sehr alles auf den Kopf gestellt war, aber sie gab sich Mühe. »Ich bin es gewohnt, Menschen zu fürchten. Kein Mensch zu sein, ist sehr gut da, wo ich herkomme. Glaub mir.«
Er betrachtete sie genau. »Und wenn das stimmt, was du sagst … Warum hast du das niemandem erzählt?«
Sie schloss die Augen. Er hatte wirklich leicht reden. Er war einer von den Glücklichen, die nie erklären mussten, wer oder was sie waren. Hirka wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.
»Weißt du, ich dachte, ich käme nach Hause. Ich dachte, sobald ich hier bin, würden alle sehen, dass ich so bin wie ihr. Ein Odinskind. Ihr würdet mich mit offenen Armen empfangen. Das dachte ich.«
Hirka wusste, dass sie den Mund halten sollte, aber die Worte hatten einen Funken entzündet. Sie brannte. Sie musste reden. Musste ihm begreiflich machen, was alles mit dieser Welt nicht stimmte. Wie schlecht sie schien.
»Zuerst, als ich hier ankam, begriff ich nichts! Ich lief. Ich lief am Tag und in der Nacht. Das Wasser war sauer, aber ich habe es trotzdem getrunken. Und obwohl die Bäume verwelkt waren, habe ich mich gefreut, sie zu sehen. Weil ich weiß, was Bäume sind, sie sind etwas Vertrautes. Etwas Echtes. Und dann sah ich diese …« Sie war jetzt gestresst und vergaß die Worte. »Autos! Und die rasten und ich … Am Anfang versteckte ich mich. In toten Wäldern ohne Tiere. Da gab es nichts zum Leben. Darum habe ich mich an die Straße gestellt und gewunken, aber niemand hielt an. Dann warf ich einen Stein. Und dann hielt einer an. Er kam raus und ich war froh, weil er mich gesehen hatte. Weil ihr jetzt wusstet, dass ich hier war. Ich dachte, er würde mich in eine Stadt bringen. Irgendwohin, wo ich wohnen konnte. An einen Ort wie Ravnhov. Und dass ich dort dann Tee trinken und abends Geschichten aus Ymsland erzählen würde und …«
Hirka stand auf. »Aber er schüttelte mich. Schrie, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Da biss ich ihn in den Arm und lief weg. Danach traf ich andere und ich versuchte zu erklären, zu sagen, dass ich durch Stein gekommen war, aber sie verstanden nicht, was ich sagte. Dann fing ich an, auf Dinge zu zeigen und zu fragen, wie sie hießen. Aber es war schwierig. Ich … ich habe Essen gestohlen.« Sie schluckte.
»Pater Brody war der Erste, der mir zuhören wollte. Ich sah all die Menschen, die zu ihm hineingingen, und ich dachte, da wäre so was wie ein großer Sehersaal. Ich folgte den anderen. Ich legte mich auf einen … Stuhl. Wie heißt das noch? … Auf eine Bank. Und Pater Brody hat mich nicht weggejagt. Ich durfte bleiben. Er fragte mich jeden Tag immer dasselbe, bis ich zu verstehen anfing. Er kannte viele und ich erzählte, wer ich war, und weißt du, was? Das spielte für sie keine Rolle! Sie sagten, ich würde nicht begreifen, was ich da redete. Dass ich mir das ausdachte. Einige guckten mich an, als wäre ich mit dem Kopf auf einen Stein gefallen. Eine alte Frau hat mir das ins Gesicht gesagt. Über andere Welten spricht man nicht, sagte sie.« Hirka hatte immer schneller gesprochen und jetzt musste sie Luft holen. »Ich bin nicht dumm. Und ich bin nicht verrückt. Also: Ja, ich habe Leuten erzählt, wer ich bin. Hast du noch mehr gute Ratschläge?«
Sie nahm ihren Beutel. »Außerdem ist es egal, was ich sage. Ich bin trotzdem eine Fremde. Es hat für euch keine Bedeutung, dass wir aus derselben Sippe kommen. Dass auch ich ein Mensch bin.«
Stefan hielt sie am Arm fest. »Du kommst also aus einem Disney-Traumland, oder was? Einem Ort, wo keiner tötet, stiehlt oder lügt? Ist das da so? Sind dort alle gleich, wo du herkommst?«
Sie riss sich los. »Nein! Aber da, wo ich herkomme, wissen alle, dass es so ist. Keiner tut so, als sei es besser, als es ist. Es gibt Mörder und Heilkundige. Arme und Reiche. Hier glaubt ihr, alle haben, was sie zum Überleben brauchen, aber das stimmt nicht. Ihr seid alle blind. Blind …« Ihre Stimme brach ab. »Aber das macht es wenigstens leichter, unsichtbar zu sein.«
Er stand auf. Sie wich einen Schritt zurück. Stefan war mindestens einen Kopf größer als sie und breitschultrig. Er nahm eine Strähne ihrer Locken und zwirbelte sie zwischen den Fingern.
»Wenn du hättest unsichtbar sein wollen, dann hättest du dir eine andere Farbe aussuchen müssen.«
»Die habe ich mir nicht ausgesucht. Mit der bin ich geboren.«
»Wirklich? Du bist mit so roten Haaren geboren?«
»Genauso wie du mit dieser Lippe geboren bist. Verstehst du das Problem? So, jetzt gehe ich. Ich kann nicht hierbleiben. Ich habe einiges zu tun. Kann ich die hier mitnehmen?« Hirka zeigte auf eine Packung Kekse, die auf dem Tisch lag. Sie hatte jetzt keine Ruhe mehr. Fühlte sich verwundbar und nackt. Wie der Totgeborene, der auf sie wartete.
»Bitte sehr. Wenn du meinst, dass du es noch schaffst, etwas zu essen, bevor sie dich finden, greif zu.« Stefan schob die Hände in die Taschen, davon überzeugt, dass seine Worte sie zum Bleiben veranlassen würden.
»Lass sie kommen. Du hast mich doch zuerst gejagt.« Sie steckte die Kekspackung in den Beutel.
Er seufzte. »Du, es tut mir leid. Ich habe viel mehr gesagt, als ich sollte, aber ich musste rausfinden, ob du eine von denen bist. Von den Kranken. Jetzt weiß ich, dass du nicht zu denen gehörst, aber sie jagen dich. Und sie sind nicht wie andere Menschen. Die Krankheit macht was mit ihnen. Mit dem Kopf. Das ist eine Infektion. Der Körper kämpft gegen das Fremde, verliert aber immer. Früher oder später. Du bist nicht sicher, Hirka.«
»Das bin ich noch nie gewesen. Außerdem sind sie tot.«
»Es kommen andere.«
»Dann muss ich wohl in Bewegung bleiben. Darin bin ich ziemlich gut.«
Hirka zog sich die Stiefel an. Ihr Messer lag auf dem Boden. Sie zögerte kurz, bevor sie es wieder in die Wollsocke steckte. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wofür sie es benutzt hatte.
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