»Ich gehe davon aus, dass du nicht die geringste Ahnung hast, was das hier ist, oder?«, fragte er. Hirka gab keine Antwort. Sie wusste es und wusste es auch wieder nicht.
Seine Füße wippten nervös auf und ab. Er trug eine blaue Hose aus dickem Stoff. Die hatte einen besonderen Namen, an den sie sich aber nicht mehr erinnern konnte. Von denen kamen im Armenhaus viele an und die meisten waren in besserem Zustand als seine, die Löcher an den Knien hatte und unter den Taschen dünn gescheuert war. Er beugte sich auf dem Stuhl vor.
»Kein Mensch reagiert nicht auf eine Glock an der Schläfe. Keiner.«
Er zog an der Zigarette und drückte sie danach in einem Glas aus, obwohl sie noch nicht zu Ende geraucht war. »Aber du«, sagte er und musterte sie. Er war vielleicht doppelt so alt wie sie. Seine Augen waren braun wie das Haar. Sie erkannte den blassen Streifen an der Lippe wieder, eine Narbe, die sie etwas nach oben zog. Unter den Bartstoppeln fast nicht zu sehen.
»Wie kommt es also, dass sich eine Jugendliche mit der Mündung am Kopf nichts anmerken lässt? Das frage ich mich. Und weißt du, was? Mir fallen nur zwei mögliche Antworten ein.« Er lehnte sich wieder zurück. »Entweder hat sie so eine Situation schon so oft erlebt, dass sie sich beherrschen kann und nicht um ihr Leben bettelt. Was unwahrscheinlich ist. Oder aber sie kapiert ganz einfach nicht, was los ist. Also: Das hier ist eine Glock 19. Eine Neun-Millimeter-Handfeuerwaffe. Eine Pistole. Aber du hast keine Ahnung, was das ist, oder?«
Hirka glaubte, dass sie verstand, was er sagte, obwohl die Hälfte der Wörter für sie neu war. Glock? Pistole? Sie schaute die Waffe auf dem Tisch an. »Das ist eine Waffe. Die tötet Leute«, antwortete sie und zuckte mit den Schultern in dem Versuch, sich den Anschein zu geben, als spreche sie schon ihr Leben lang über solche Dinge.
»Ja, das weißt du jetzt . Aber das wusstest du vorher noch nicht, oder?«
Hirka schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, so zu tun, als wüsste sie Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte. Der Mann hatte ihr trotzdem geholfen, wenn auch offenbar widerwillig.
»Genau. Und du bist vorher noch nie Fahrstuhl gefahren?«
»Fahrstuhl?«
»Hotelfahrstuhl. In dem wir rauffuhren, als wir hier ankamen.«
»Aha … nein.«
»Und du hast auch keine Ahnung, was die hier wert sind?«
Er ließ drei Steine auf den Tisch rollen. Es waren ihre. Die hatte er ihr weggenommen. »Das sind meine!« Hirka griff nach ihnen. »Sie waren ein Geschenk«, fügte sie hinzu und schaute ihn vorwurfsvoll an. Er war hier der Dieb. Nicht sie.
»Das heißt also nein? Du hast keine Ahnung, was sie wert sind?«
»Doch. Oder … nein, nicht hier.«
»Genau. Und das ist ja das Interessante, oder? Du weißt, was sie woanders wert sind, aber nicht hier. Dann habe ich da noch eine andere Frage.« Er beugte sich wieder vor. »Wo zum Henker kommst du her?«
Hirka biss sich auf die Lippe. Zu erzählen, woher sie kam, brachte nie etwas Gutes.
»Hast du was zu trinken?«, fragte sie.
Kurz machte er ein ratloses Gesicht. Als habe ihn noch nie jemand um so etwas Einfaches gebeten. Doch er stand auf und ging ins Badezimmer. Hirka warf einen Blick auf die Ausgangstür. Sollte sie versuchen zu fliehen? Das hier war vielleicht die beste Gelegenheit, die sich ihr bieten würde … Sie spannte sich auf dem Stuhl an, hatte aber schon zu lange gewartet.
Er kehrte zurück und stellte ein Glas Wasser vor sie hin. Hirka trank es bis auf den letzten Tropfen aus. Er fragte nicht, ob sie mehr haben wollte.
»Hast du die jemandem gezeigt?«, fragte er. »Die Steine?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber ich habe das getan. Und ich würde gut auf sie aufpassen, wenn ich du wäre. Fuck, was für eine Verschwendung. Mit denen da könnte ich in Rente gehen und du hast keinen blassen Dunst. Ich sollte sie mir nehmen, das sollte ich machen.«
»Das hast du doch auch.«
»Fuck …« Er schaute hinaus auf die Lichter, die weiter weg bei der Kirche blinkten. »Ich dachte, die gehören denen . Ich dachte, du hättest was mit denen zu tun. Aber du hast auch keine Ahnung, wer die sind, oder? Du hast noch nie was von Vardar gehört? Oder von den Vergessenen?«
Sie schüttelte den Kopf. Er rieb sich das Gesicht mit der einen Hand. Er sah müde aus.
»Wie heißt du?«, fragte Hirka und zog auf dem Stuhl die Füße unter sich hoch. Sie wäre am liebsten irgendwo hochgeklettert, doch es gab nichts, worauf sie hätte klettern können. Er lächelte schief. Dadurch sah er anders, fast freundlich aus. Das hatte sie nur nicht sehen können, solange er ein gefährlicher Feind war. Was er vielleicht auch immer noch war. Sie wusste es nicht. Jedenfalls war er alles andere als ein Freund.
»Stefan. Ich heiße Stefan Barone.« Er sah aus, als sei er über seine eigene Antwort erstaunt. Sie hoffte, dass es daran lag, dass er die Wahrheit sagte.
»Ich bin Hirka.«
»Komischer Name, aber das ist wohl kein Wunder. Woher kommst du, Hirka?«
»Woher kommst du ?«
Sein Blick glitt über sie, als suche er etwas, woran er sich heften konnte. Etwas, das ihm helfen konnte, sich zu entscheiden, ob er antworten sollte oder nicht.
»Mein Vater war Schwede, meine Mutter war Italienerin. Zu Hause kann man an tausend verschiedenen Orten sein, solange es dort Hotels und Bekannte gibt. Das letzte halbe Jahr habe ich in etwa zehn Ländern in Europa gewohnt. Aber das sagt dir nichts, oder?«
»Mein Vater war aus Ulvheim, meine Mutter kenne ich nicht. Bevor ich zehn war, hatte ich das meiste von Ymsland von einem Wagen aus gesehen, und ich bin zu Fuß durch Blindból gelaufen. Aber das sagt dir bestimmt auch nichts.«
Stefan lachte und massierte sich den Nacken. Er war ein erwachsener Mann, hatte aber trotzdem etwas Verlorenes. Hirka grinste kurz und merkte, dass sie schon lange nicht mehr richtig gelächelt hatte. Der Raum fühlte sich gleich wärmer an. Sie wusste nicht, woran das lag, doch sie konnte plötzlich die Schultern etwas entspannen. Steckte so viel Kraft darin, jemandem seinen Namen zu nennen? Vielleicht war es ihr gelungen, das Eis so weit zu brechen, um wegzukommen. Zurück zu dem Blinden.
Und was wollte sie dort machen? Rumsitzen, bis noch mehr Männer kamen?
»Was ist mit deiner Lippe passiert?« Hirka zeigte auf ihre eigene Lippe, für den Fall, dass sie die falschen Wörter verwendet hatte.
»Ich bin so geboren. Und es ist nicht schön, wenn man da hinstarrt.«
»Ich finde es schön«, sagte Hirka. »Ja, also nicht hinstarren. Aber deinen Mund.«
Stefan lachte und drückte wieder auf seinem Telefon herum. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe: Du bist gerade einem Kidnappingversuch durch ein paar Kranke entkommen. Du hast keine Ahnung, wer die waren oder was die von dir wollten. Jeder Cop in York schiebt Überstunden, um uns zu finden. Ein fremder, bewaffneter Mann sitzt einen Meter von dir weg. Und du redest über meinen Mund?«
Hirka zuckte die Achseln und starrte zu Boden. »Ich habe nichts Falsches gemacht. Ich weiß nicht, warum das so gekommen ist.«
Stefan legte das Telefon wieder aus der Hand und stand auf. Sie sah, dass er um den Hals eine Kette trug. Die verschwand unter dem Pullover.
»Kanntest du mal jemanden, der richtig krank war, Hirka?«
Hirka unterdrückte ein Lächeln. Sie bezweifelte, dass Stefan genauso viele Kranke gesehen hatte wie sie, doch sie antwortete nicht.
»Ich meine richtig krank, Hirka. Jemand, der weiß, dass er bald sterben muss? Stell dir vor, du siehst eine todgeweihte Person ein Jahr später quicklebendig wieder. Und drei Jahre später. Und dreißig Jahre später.« Er schaute Hirka an. »Und nicht nur am Leben, sondern auch keinen Tag älter. Was würdest du dann denken?« Er zündete sich eine neue Zigarette an, machte aber nicht den Eindruck, als würde er sie genießen.
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