»Gott steh mir bei …« Isac verdrehte die Augen. »Das hier sollte sauber und ohne Blut ablaufen. Ohne Blut, Micke. Das hier ist kein Film! Du fährst keinen Meter, bevor du hinter dir aufgeräumt hast! Hörst du, was ich sage?«
»Aufräumen? Was zum Henker … Wir haben sie doch! Wir sind draußen. Ich gehe da nicht mehr rein! Man geht nie zurück, Isac! Das ist Regel Nummer eins im Feld. Schnell rein, schnell raus, oder?«
»Ich schlage ihm die Glotze ein«, flüsterte Isac und rieb sich die Nasenwurzel. Im Auto wurde es still. Die beiden anderen starrten den Mann am Steuer an.
»Was? WAS? Wir haben das, warum wir hergekommen sind!«
»Sie, aber nicht den Raben. Willst du ihn anrufen und ihm das erzählen?«, fragte Isac.
Micke schluckte.
»Nein, das dachte ich mir. Dann müssen wir einen Raben herzaubern.«
»Können wir nicht einfach einen von denen da hinten nehmen? Das ist doch egal …«
»Das sind Krähen, du Idiot.« Isac guckte Hirka an. »Es grenzt doch an ein Wunder, dass er überhaupt auf zwei Beinen geht, oder?«
Sie gab keine Antwort, angewidert, dass er versuchte, sie in seinen Scherz mit einzubeziehen. Die Kerle auf den Vordersitzen waren jetzt sehr nervös. Der größere fluchte und stieg aus dem Wagen. Er zündete sich eine Zigarette an.
»Wo ist der Vogel, mein Fräulein?« Isac lehnte sich zu ihr herüber. Er roch verfault. Seine Kleidung war sauber, aber er roch trotzdem. Von den anderen schien es keinem aufzufallen. Merkte nur sie etwas davon? Das erinnerte sie an Urd. Der Geruch aus seinem Hals beim Steinkreis in Ravnhov. Seine Männer schienen sich auch nicht geekelt zu haben. Aber es war Micke, der getötet hatte. Ohne es zu bereuen. Als sei es sein Recht, das Leben anderer zu beenden. Das von Pater Brody. Von Jay. Von Dilipa. Von einem Kind. Von einem fünfjährigen Kind … Das war nicht auszuhalten. Hirka spürte, wie ihre Lippen zitterten, und kniff sie zusammen.
Isac zog sie ins Freie und drückte sie gegen das Auto. »Wo ist der Rabe?«
Hirka zuckte die Schultern. »Er ist ein Vogel. Sie fliegen immer, wohin sie wollen«, antwortete sie.
Isac kam ihr noch näher. Sie drehte den Kopf weg, um seinen Atem nicht riechen zu müssen, aber er kam mit dem Gesicht hinterher. Seine Augen wirkten blass. War er krank? Dem Geruch nach zu urteilen müsste er schon tot sein. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm, doch sie weigerte sich zu zeigen, wie sehr ihr das Angst machte.
»Was ist nur los mit dir?«, fragte er. »Was ist nur so unglaublich Besonderes an dir, dass ich den ganzen Weg herkommen musste, um nach dir zu suchen? Was hast du, was wir nicht haben, hmm?«
Er machte nicht den Eindruck, als erwarte er eine Antwort. Aber sie antwortete trotzdem: »Eine Seele.«
Sie hatte nicht mit einer Reaktion gerechnet, doch Isac starrte sie eine Weile mit offenem Mund an. Dann fing er sich wieder. Warf den blonden Haarschopf zurück. Eine viel zu jugendliche Geste für einen Mann von bestimmt über fünfzig.
»Es ist schon total schräg, wenn man einen Raben als Haustier hat«, meinte er und zog an seinen Jackenaufschlägen, als säßen sie nicht richtig. »Das bedeutet doch wohl, dass du ihn magst, oder? Und da wäre es doch schade, wenn wir diese Kirche jetzt abfackeln müssten. Ich frage mich …« Er hob ihr Kinn mit der Hand. »Wie riechen wohl verbrannte Federn? Was meinst du?«
Der große Kerl lachte in sich hinein und warf die Kippe auf den Boden. Trat sie aus. Dann öffnete er die Wagentür und holte einen Behälter heraus. Öl, vermutete Hirka. Er begann etwas in seiner Tasche zu suchen, während er an ihnen vorbei zur Kirche ging.
Ihre Wut besiegte die Angst. Hätten sie sie töten wollen, dann hätten sie das schon längst getan. Aber sie lebte. Das machte sie mutiger. Sie starrte Isac an.
»Eines Tages«, begann sie, »da kommst du zu mir und bettelst mich an, dein Leben zu schonen.«
»Aber nicht heute«, antwortete Isac und schubste sie zurück ins Auto.
Micke rieb sich mit den Händen das Gesicht. »Isac, wir müssen weg. Wir verplempern hier unsere Zeit!«
»Wir gewinnen Zeit, du Hirni! Wenn wir jetzt abhauen, haben wir in einer Stunde einen Massenmord in den Medien, besten Dank auch dafür. Jetzt kriegen wir stattdessen einen Brand. Wenn wir Glück haben, dann bringt uns das ein paar Stunden Vorsprung. Und wenn du noch ein Mal das Maul aufmachst, werfe ich dich ins Feuer.«
Hirka steckte den Arm in den Stiefel. Langsam, damit keiner etwas mitbekam. Sie tastete unter das Hosenbein und griff nach dem Messer.
»Da kommt er«, sagte Micke und guckte durchs Rückfenster.
Zwei Mal knallte es irgendwo. Micke duckte sich hinter das Steuer. Hirka zog das Messer und warf sich aus dem Auto. Die Tür traf Isac, wodurch er auf den Asphalt sank. Er griff sich an die Brust. Ein Blutfleck breitete sich um seine Finger aus. Wurde vom Hemdmuster aufgesogen. Er starrte zu ihr hoch. Verwirrt.
Es knallte wieder. Das Geräusch schien aus den Wänden der dunklen Gasse zu kommen, war nicht näher zu orten. Jemand packte sie. Sie wirbelte herum. Es war Micke. Er zog sie an sich und starrte zum Himmel. »Wer ist das? Wer zum Henker ist das?« Sie sah, wie etwas entfernt eine Gestalt die Feuerleiter hinabkletterte, das letzte Stück sprang. Micke zog einen Gegenstand aus der Innentasche seiner Jacke und drückte ihn an ihren Kopf. Es war eine Waffe. Das wusste sie jetzt. Und sie wusste, was er in der Kirche getan hatte. Er würde es wieder tun. Sie umklammerte das Messer fester.
»Ich werde dich retten«, sagte sie.
Mickes Augen flackerten. Er begriff nichts. Er hielt ihr die Waffe unters Kinn und schluchzte. Entweder er oder sie. Hirka rammte ihm das Messer in die Brust. Genau unterhalb der Rippen. Drückte es hoch. Er riss die Augen auf. Sie lehnte sich gegen ihn, flüsterte ihm ins Ohr: »Du brauchst nie mehr Angst zu haben, Micke.« Die Waffe in seiner Hand fiel zu Boden. Hirka zog das Messer wieder heraus. Von dem Geräusch wurde ihr schlecht. Er sackte zusammen und blieb gegen den Autoreifen gelehnt liegen.
Der Dritte.
Hirka drehte sich um. Der muskulöse Kerl mit dem Ölbehälter kam von der Kirche angelaufen. Er war groß. Sie würde nie allein mit ihm fertigwerden. Es knallte wieder. Er blieb auf der Stelle stehen, fiel auf die Knie. Sein Körper schwankte vor und zurück. Hinter ihm sah sie, wie Flammen aus der Kirche schlugen. Ein Alarm heulte. Dann kippte er zur Seite.
Jemand lief an ihr vorbei. Die Gestalt, die die Treppe heruntergekommen war, ging neben dem Mann am Boden in die Hocke. Sie hörte etwas knacken. Einen Augenblick dachte sie, der Mann habe dem Toten einen Finger gebrochen, doch sie konnte beide Hände sehen, darum musste es also etwas anderes gewesen sein.
Dann kamen die Sirenen. Die Polizei. Hirka hatte sie schon einmal gehört, das war das Geräusch des Untergangs. Der Endzeit. Sie presste ihre Hände auf die Ohren. Sie zitterte. Sie zitterte so heftig, dass sie das Geräusch nicht richtig aussperren konnte. Das Blut lief vom Messer zwischen ihre Finger. Der Mann, der sie gerettet hatte, erhob sich wieder und kam auf sie zu. Sie hätte ihn überall wiedererkannt. Er war es. Der Mann mit dem Kapuzenpullover. Sie hielt das Messer vor sich, während sie zurückwich.
Er ging an ihr vorbei und setzte sich ins Auto. »Komm«, sagte er, »wir haben keine Zeit.«
Hirka starrte die Flammen an. Warum musste alles brennen? Warum war alles, was sie anfasste, dem Untergang geweiht? Ihr einziger Wille war zu heilen, Dinge zusammenzusetzen. Ymsland … Sie stand auf dem Hügelkamm und sah die Hütte brennen. Vater war tot. Alle waren tot.
Sie bewegte sich wie gebannt, setzte sich zu dem Fremden ins Auto. Er startete den Motor. Der Wagen rollte vorwärts. Sie hörte einen dumpfen Aufprall und guckte nach hinten. Es war Micke. Er war umgefallen, als das Auto sich in Bewegung gesetzt hatte. Hirka legte die Hand auf die Scheibe.
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