Plötzlich aber wurden sie auf etwas Seltsames aufmerksam, und zwar alle drei zugleich, von dem gleichen Instinkt geleitet. Da war ein Klang von freier Überlegenheit, ein Unterton von Spott und Schalkhaftigkeit, der sie veranlasste, genauer hinzuhorchen, genauer in das kluge muntere Gesicht zu schauen. Und sie empfingen einen Antwortblick, der sie erschreckte, weil er Ungeheures zu verheissen schien, einen Blick, der deutlich sagte: ich gehöre zu euch, ich schliesse ein Bündnis mit euch, lasst mich nur machen, ich verstehe diese Sache gründlich und kann euch gründlich helfen.
Ungläubig starrten sie und suchten zu begreifen und schlugen wie geblendet die Augen nieder.
Christine blieb davon unberührt. Sie hatte den schmerzlichen Eindruck, Ulrike sei durch Mylius gegen sie gestimmt worden, und als sie einige Minuten später, von Ulrike mit stummem Wink aufgefordert, mit ihr das Zimmer verliess, um zu Josephe zu gehen, legte sie, kaum dass sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ihre Hand auf den Arm des jungen Mädchens und sagte hastig: „Sie werden doch nicht glauben, dass ich leichtfertig bin? Für so eine schlechte Mutter und Hausfrau werden Sie mich doch nicht halten, wie er mich im Zorn hingestellt hat? Es ist ja auch nicht seine wirkliche Meinung, kann ich Sie versichern. Er ist gerecht und über Unbotmässigkeit kann er sich nicht beklagen.“
Ulrike erwiderte leise: „Gnädige Frau, über Sie zu urteilen, steht mir nicht im geringsten zu. Aber vielleicht darf ich Ihnen sagen, dass Sie mir vom ersten Augenblick an eine Sympathie eingeflösst haben wie noch kein weibliches Wesen; ich habe nämlich im allgemeinen für Frauen nicht viel übrig, und dass ich Sie verehre. Ich wünsche mir nichts Lieberes als dass Sie mir erlauben, Sie möglichst oft zu besuchen.“
„Ich danke Ihnen,“ sagte Christine; „das war ein gutes Wort. Gute Worte hör ich selten. Kommen Sie nur. Kommen Sie jeden Tag, so oft Sie können. Ich freue mich darauf.“
Sie gingen ein Stück über den Flur, an dessen Wänden Etageren mit Zinnfiguren angebracht waren. „Etwas müssen Sie gleich erfahren“, begann Christine wieder mit vorsichtig gedämpfter Stimme, „sonst könnten Sie am Ende doch der Ansicht sein, dass Mylius das Opfer seiner Familie ist: so sind die Verhältnisse nicht, wie er sie in seinem Pessimismus schildert, das kann Ihnen jeder Mensch in der Stadt bekräftigen. Sein Antiquitätengeschäft ist in ganz Europa bekannt, H. O. Mylius, erkundigen Sie sich, bei wem Sie wollen. Ich weiss natürlich nicht, ob Vermögen da ist und wieviel; darüber spricht mein Mann nicht mit mir, das geht gegen seine Grundsätze, die ich zu respektieren habe. Ich weiss nicht, ob er grosse Gewinne hat oder nicht, ich frage ihn nicht. Nur soviel weiss ich, dass er mich und die Kinder über das Gebührliche knapp hält. Solche Auftritte wie heute kommen ja selten vor, aber ganz zu vermeiden sind sie nicht. Er kann nicht anders, der arme Mann, es ist stärker als er, und ich sage es Ihnen nur, weil es leider nicht zu verhehlen ist und weil Sie noch manches davon erleben werden, wenn Sie nun trotzdem noch Lust haben sollten, zu uns zu kommen.“
„Das wär noch schöner, wollt ich mich durch so was abschrecken lassen,“ sagte Ulrike mit ihrer tiefen, Zutrauen erweckenden Stimme; „im Gegenteil, mir scheint, ich kann Ihnen da in vieler Beziehung nützlich sein. Erstens bin ich selber nicht auf Eiderdaunen gebettet; zweitens bin ich der geborene Blitzableiter; drittens bin ich entschlossen, für Sie durchs Feuer zu gehen, wenn Sie mich ein bisschen liebhaben wollen.“
Christine griff gerührt nach ihrer Hand, und sie betraten auf Zehen das Zimmer der schlafenden Josephe.
Es hätte der schüchternen Aufklärung Christines nicht bedurft. Ulrike hatte ihre Zeit nicht verloren. Ihre Beobachtungen hatten ihr die Gewissheit verschafft, dass sie sich nicht bei armen Leuten, nicht in einem wirtschaftlich sinkenden Wesen befand. Des Herrn Mylius Standrede konnte sie nicht irreführen; in dem Punkt besass sie untrügliche Witterung.
Zuerst allerdings hatte ihr die Wohnung den Eindruck der Kleinbürgerlichkeit gemacht. Wäre es dabei verblieben, so hätte sie die Flucht ergriffen; Kleinbürgertum war eben das, was sie zu meiden gesonnen war. Da stand und lag alles so eng und so dicht und so gezählt; die Räume dumpf und niedrig; es fehlte Bequemlichkeit, Freiheit, generöse Absicht. Zier und Behänge waren da, weil sie da sein mussten, nicht weil man sie schätzte oder hütete. Etwas Liebloses lastete über den Dingen.
Aber Ulrike sah, dass die Möbel, ohne gerade prunkvoll zu sein, solid und stattlich waren; keine Dutzendstücke, keine Vorstadterzeugnisse; die Teppiche: echtes Material; das Linnen: feinste Qualität; das Tischbesteck: massives Silber; die goldgerahmten Gemälde an den Wänden: Originale von Künstlern und alt. Sie sah da und dort Gegenstände von unbezweifelbarer Kostbarkeit: eine Nippesfigur, eine Bronze, einen Leuchter, eine Kristallschale, eine chinesische Vase. Freilich konnte sie der Alte aus seinem Laden hergeschleppt haben, um sie allenfalls hier feilzubieten und so auf billige Manier zu einer Ausschmückung zu gelangen, die dann wieder wandern musste. Doch den Gedanken verwarf Ulrike; er dünkte ihr nicht vereinbar mit dem Charakter des Mannes; der lieh nicht, auch sich selber nicht; der mogelte nicht; bei dem war alles unverfälscht und an der richtigen Stelle.
Täuschung war kaum möglich: hier war Wohlhabenheit, jene Gediegenheit des Besitzes, die man bei bescheidener äusserer Gebarung nur selten antrifft.
Nichts entging ihrem spähenden Auge, dessen Ausdruck sie jedoch so zu beherrschen wusste, dass niemand seine unermüdliche Wachsamkeit auch nur ahnen konnte. Sie verglich die Dinge mit den Menschen; sie riet den Dingen die Gewohnheiten der Menschen ab, Eigenschaften und Art. Sie betrachtete die beiden stillen jungen Mädchen, denen sie nur wenige Jahre im Alter voraus war; betrachtete sie in ihren unscheinbaren, fast ärmlichen Gewändern und wie geduckt sie waren, wie man spürte, dass sie um ihre gewürgte Jugend trauerten und sich ergeben durch die Tage schleppten ohne die leiseste Regung von Rebellion; den Sohn mit dem Gesicht eines reizenden Galgenstricks, voll Begehrlichkeit und heimlicher Gelüste, während ihn die Furcht vor dem Vater in Bann hielt und auf den vorgeschriebenen Weg zwang; die jüngste mit den glühend-fragenden Augen einer Schwärmerin; die Mutter, zarte, schüchterne Gestalt, beschwichtigend, versöhnend, verschleiernd, vermittelnd zwischen Mann und Kindern, dabei selbst geknechtet, mit einem Schein von Ratlosigkeit in den schönen Augen; zuletzt den Alten mit seinem pfiffigen Schmunzeln, das er sich wahrscheinlich im Beruf angewöhnt hatte, wenn er Käufer und Verkäufer beschwatzte, seinen vogelhaften Kopfbewegungen, seinem Tyrannengebaren und beständigen Gerüstetsein gegen Lebensdrang und Lebenslust und der verräterischen Angst, die dahinter flimmerte.
Mit dem Alten ist etwas los, sagte sich Ulrike kampflustig, der Alte hat ein Geheimnis; von welcher Beschaffenheit es ist, darauf zu kommen wird vielleicht nicht schwer sein, aber es ihm zu entreissen und Nutzen daraus zu ziehen, bedarf der Schlauheit und Geduld. Möglich dass sich die Mühe lohnt, überlegte sie weiter; es wäre ein Ziel für mich, endlich einmal was, das einem Spass machen könnte. Wer weiss, wohin es führt und welche Überraschungen einem da bevorstehen. Offenbar betrügt er die ganze Familie und spielt den armen Teufel nur, um sie nicht merken zu lassen, was für Reichtümer er in alter Stille zusammengescharrt hat; dergleichen wäre ihm wohl zuzutrauen; sie müssen darben und vor ihm zittern, indes er auf der gefüllten Geldtruhe hockt und sich ins Fäustchen lacht. Verhält es sich so, mein Guter, dann werd ich dir heimleuchten, dann hat dein Stündlein geschlagen.
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