Es war elf Uhr geworden, und nachdem er über den Flur Lothar mit seiner Keifstimme zugerufen hatte, er solle die Lampe auslöschen und zu Bett gehen, begab er sich selbst zur Ruhe. Doch floh ihn der Schlaf. Spöttisch-mitleidig auf ihn gerichtete Augen hielten die seinen durch viele Stunden wach.
Derweil liess die Urheberin solch ungewöhnlichen Aufruhrs es sich angelegen sein, alle ungestümen Erwartungen ihrer Schutzbefohlenen zu erfüllen, und sie lernte kennen, was entflammtes Blut ist in behüteten jungen Geschöpfen und die Begierdenwut, die sich in Träumen angesammelt hat.
Die beiden waren kaum zu zügeln und stürzten sich bedenkenlos in das Element, dessen Breite und Tiefe ihnen so gross dünkte wie ihr Hunger. Sie redeten wirr; sie schweiften trunken umher; sie ergriffen jede sich bietende Hand und bedauerten es, wenn sie sie wieder lassen mussten, weil eine andere sich ausstreckte. Blicke versetzten sie in schwindelnde Unruhe; alles war betäubend neu, Ankündigung eines noch seligeren Zustandes, Lockung, Gefahr und Dramatik. Dabei waren sie furchtsam, besonders Aimée, deren etwas verschlagene Lüsternheit durch Stolz und Sprödigkeit gehemmt war. Um so verlangender brannten die Augen hinter der Maske. Esther äusserte sich offenherzig: „Der Gedanke, dass man in dieser Welt nur der Gast für ein paar erbärmliche Stunden sein darf, könnte einen rasend machen. Was für eine Existenz führt man Tag für Tag! Helfen Sie mir aus dem Sumpf, Ulrike, und ich will Ihnen bis an mein Lebensende dankbar sein.“
„Was nicht ist, kann noch werden“, antwortete Ulrike gelassen und machte ihre stillen Glossen zu diesem bemerkenswerten Ausbruch von Temperament. Sie dachte zynisch: die könnte man alle zwei dem Teufel verkuppeln, und sie würden seinen Schwanz für einen Regenbogen halten.
Sie für ihre Person langweilte sich. Die etwas zahme Ausgelassenheit ringsum liess sie kalt; der Schaum trug sie nicht, sie sah nur den schalen Bodensatz, das Zweck- und Vernunftlose, daher erregte die leidenschaftliche Sucht ihrer Gefährtinnen, dieses Neulingsfieber, ihren heimlichen Hohn. Doch erinnerte sie sich, dass sie nicht bloss zur Betreuung da war, sondern auch zur Belehrung. Die Erde, einmal umgepflügt, musste auch gedüngt werden. Es sollte etwas wachsen. Es war für künftige Ernte zu sorgen.
Von beiden, der einen links, der andern rechts, mit Fragen bestürmt über Menschen und was zwischen den Menschen an Begebenheiten lag, hielt sie mit ihrer Wissenschaft nicht zurück, und als sie mit den Kenntnissen zu Ende war, phantasierte und dichtete sie frisch drauflos. Sie brauchte dabei nur zu fürchten, dass sie die Wirklichkeit nicht erreichte; sie zu überbieten war nach allem, was sie von der menschlichen Gesellschast erfahren hatte, ziemlich schwer. Die käuflichen Frauen, die abenteuernden Männer, die Spieler, die Verführer, die Bankrotteure, die kupplerischen Matronen, die kahlköpfigen Wüstlinge, die ordengeschmückten Streber, notorische Verschwender und Schuldenmacher in glänzenden Uniformen, Aristokratinnen mit zweideutigem Ruf, Träger und Trägerinnen erlauchter Namen, denen die Fama wenig Erlauchtes nachzusagen wusste, alle bekamen ihren Steckbrief und führten vor den Augen der erstaunten Novizen die ränkevolle Komödie auf, die man die grosse Welt nennt. Binnen kurzem hatte sich vor den zwei atemlosen Zuhörerinnen ein so monströses Gemälde von Verirrungen, Verbrechen, Niedrigkeiten, Lügen, Grausamkeiten, privaten und öffentlichen Sünden entrollt, dass ein geschickter Verfasser von Hintertreppenromanen ein Dutzend Bände damit hätte füllen können, ohne seine Einbildungskraft im mindesten zu vergewaltigen, und was Esther und Aimée betraf, so empfanden sie denselben wohlig-gruselnden Kitzel, den hervorgerufen zu haben den Ehrgeiz besagten Autors vollauf befriedigt hätte.
Denn es lag ja Ulrike nicht daran, nach Moralistenart abzuschrecken; sie verstand es und zielte darauf hin, das Laster schmackhaft zu machen und die Verderbnis in reizenden Farben zu malen. Alles, was da wogte und flatterte, liebte und hasste, lächelte und scherzte, war weit entfernt von der gültigen Regel des Wohlverhaltens; alles, was sich abspielte, vor und hinter den Kulissen, spottete der bürgerlichen Begriffe von Mass und edlem Betragen. Straflosigkeit war zugesichert; ja man bedeckte sich mit Ruhm und genoss die Bewunderung des Publikums, wenn man sich darin vor andern hervortat. Dies liess Ulrike durchblicken, und ihre Schülerinnen lauschten gläubig und andächtig.
Sie erlaubte ihnen, sich für eine Weile auf eigene Faust zu vergnügen. Während dieser Zeit kauerte sie sich in eine Logenecke und schlief. Als sie erwachte, war es schon spät, und sie begab sich mütterlich besorgt auf die Suche. Sie fand ihre Freundinnen in einer lärmenden Gesellschaft junger Herren, bedenklich munter, ja in nicht ganz einwandfreier Geistesverfassung, mahnte zum Aufbruch, begleitete die beglückt Erschöpften nach Hause und nahm die Ergüsse ihres überströmenden Dankes mit leisem Sarkasmus entgegen.
Zu Mittag kam Lothar, um sich die versprochenen achtundvierzig Gulden zu holen, und eine Stunde später brachte er die Dose. Er zerdrückte ihr beinahe die Hand vor Dankbarkeit, auch der, aber es war doch ein anderes; da leuchtete sie ein ihr gemässeres Wesen an, Wille, der dem ihren verwandt war. Da hatte sie ein Rad in Schwingung versetzt, das lief sicher und schnell seine kühne Bahn. Sie ertappte ihre Gedanken, wie sie naschhaft um das Bild des Jünglings kreisten, aber sie schüttelte sie ab und der gemeine Alltag stellte seine Forderung.
Ihre Barschaft überzählend, sagte sie sich, dass sie damit den unterschiedlichen Seitensprüngen der Myliusschen Sprösslinge nicht mehr lange Vorschub leisten könne und es nötig war, sich eine Hilfsquelle zu erschliessen oder ohne Umstände geradezu aufs Ziel zu marschieren. Die Ereignisse zeigten ihr den Weg.
Als sie am späten Nachmittag in die Myliussche Wohnung kam, fand sie alle verstört. Christine erzählte ihr, was geschehen war.
Das alte Fräulein von Elmenreich war höchst aufgeregt zu Mylius in den Laden gekommen und hatte ihm mitgeteilt, dass Lothar ihrem Neffen achtundvierzig Gulden fünfzig Kreuzer schuldig sei, und dass bisher alle Versuche, das Geld von ihm zurückzuerhalten, vergeblich gewesen wären. Längst schon sei ihr das bedrückte Wesen Roberts aufgefallen, heute habe sie ihn ins Gebet genommen und er habe ein Bekenntnis abgelegt. Sie sei nicht reich genug, um den Verlust einer solchen Summe verschmerzen zu können, und wende sich daher an den Vater. Mylius, in fassungslosem Entsetzen, hatte sie, keines Wortes mächtig, angestiert (die Törin war nachher, als ihr klar wurde, was sie getan, zu Christine geeilt, um ihr Bericht zu erstatten); plötzlich hatte er zu schreien begonnen: er wolle mit der Sache nichts zu schaffen haben, er leugne die Verpflichtung zu zahlen, jedenfalls müsse er die Angelegenheit gründlich untersuchen, sie möge an einem andern Tag wieder vorsprechen. Kaum war sie wieder daheim, als ihr Robert verkündete, Lothar habe inzwischen das Geld gebracht. Mylius aber war in unmässigem Zorn nach Hause gekommen, hatte sich, den Stock in der Faust, über Lothar förmlich gestürzt, hatte ihn in das eheliche Schlafzimmer gezerrt, schreiend zur Rede gestellt, die Antworten nicht abgewartet und ihn so fürchterlich geschlagen, dass der Stock zerbrochen war und der Knabe schliesslich wie leblos dalag. Die Tür hatte er verriegelt; Christine, Esther und Aimée rüttelten daran und riefen, weinten, flehten; umsonst; erst als er ausgetobt, erschien er wieder mit blutunterlaufenen Augen und schweisstriefenden Haaren. Die drei Frauen brachten Lothar in seine Kammer, betteten ihn dort und wuschen Kopf und Gesicht mit kaltem Wasser. Dann hatte sich Christine zu ihrem Mann begeben, der allein bei Tische sass und mit noch immer verzerrten Mienen die Suppe schlürfte, die ihm Therese unterdessen aufgetragen, und hatte ihm, an allen Gliedern bebend, doch mit ruhiger Bestimmtheit erklärt, solche Misshandlung eines Kindes überschreite seine Befugnis, vom menschlichen Gefühl ganz zu schweigen, und sie sei nicht gesonnen, dergleichen weiterhin zu dulden. Stets habe sie, ob sie eines Sinnes mit ihm gewesen oder nicht, sich vor den Kindern und um der elterlichen Autorität willen zu ihm bekannt, auch wo er nach ihrem Dafürhalten zu scharf ins Gericht gegangen sei und seine erzieherischen Prinzipien allzu unerbittlich ins Werk gesetzt habe. Dies aber sei die Grenze, an diesem Punkt trennten sich die Wege und ende die Solidarität.
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