Sie machte sich wieder auf den Heimweg und begriff ihre Bestürzung nicht recht. Sie begriff nicht, was ihr an dem Anblick so ungewöhnlich und beängstigend gewesen war. Und sie begriff endlich nicht, weshalb sie nicht einfach hineingegangen war, um ihre Bestellung auszurichten. Zu ihrer Rechtfertigung sagte sie sich, es sei ja nun alles in bester Ordnung; da der Vater und Ulrike gemütlich beisammen sassen, brauchten die Schwestern nicht mehr zu bangen. Dabei fiel ihr ein, wie nichtig der Gegenstand dieses Bangens im Grunde war, und das vermehrte ihre Verstimmung.
Doch sonderbar, Josephe konnte zu Hause nicht sagen, was sie gesehen. Sie zürnte sich selbst, aber die Lippen waren ihr wie versiegelt, als ob ein drohender Bote sie zum Schweigen aufgefordert hätte, und sie berichtete nur, dass der Laden geschlossen gewesen sei, was den Kummer und die Wut der Schwestern nicht eben verringerte.
Freilich war Josephe auch sonst, wo es sich um Mitteilungen im Familienkreis handelte, von einer fast trotzigen Zurückhaltung. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass man den Menschen nicht dient, wenn man sich über ihr Tun und Lassen verbreitet, und dass es besser ist zu warten und zuzusehen, als sich voreilig in ihre Angelegenheiten zu mischen. In diesem Fall hatte ihr zudem ein unerklärliches Etwas in Ulrikes Miene Furcht eingeflösst, sie zu verraten oder überhaupt von ihr zu sprechen.
Ein paar Minuten nach Josephe kam auch Lothar mit der Kunde, Ulrike sei nicht daheim. Eine gelbe alte Person habe ihn bös angefahren und ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Hierdurch schien er gereizt und erklärte, gleich wieder hingehen und Ulrike am Haustor erwarten zu wollen. Er stiess die Worte atemlos heraus und war augenscheinlich in Verzweiflung, dass er Ulrike nicht getroffen hatte. Jetzt fiel Christine seine Fahrigkeit und sein rastloser Blick auf, aber ehe sie ihn fragen konnte, war er schon wieder fort.
Er hatte seiner Freundin ein schlimmes Geständnis zu machen. In seinem plötzlich erwachten Lebenshunger und den Begierden, die Ulrike allerdings mit Plan und Absicht in ihm geschürt, durch Geldmangel lästig eingeengt, hatte er, um sich zu helfen, zu einem verbrecherischen Mittel seine Zuflucht genommen und in einem unbewachten Augenblick im Geschäft des Vaters eine silberne, auf dem Deckel mit einem Smaragd besetzte Dose entwendet. In der begründeten Furcht, die Tat könne entdeckt werden, wenn er das gestohlene Gut an einen Händler in der Stadt verkaufte, hatte er die Dose seinem Freund Robert Elmenreich als Pfand gegeben, wofür ihm dieser seine gesamten Ersparnisse ausgehändigt hatte, an vierzig Gulden. Schon vorher hatte er kleine Beträge von ihm ausgeliehen, so dass er ihm im ganzen achtundvierzigeinhalb Gulden schuldig war. Weil nun Robert nach einigen Tagen selbst in Bedrängnis geriet, verlangte er das Geld zurück, und zwar mit unangenehmer Dringlichkeit. Lothar wusste nicht, wie er sichs verschaffen sollte; der andere drohte, das Pfand zu veräussern; Lothar stellte ihm die Gefahr eines solchen Schrittes vor und dass er als Hehler mitbezichtigt werden würde, da hatte ihm Robert Elmenreich, der für sein Vermögen zitterte, kurzweg erklärt, er werde die Dose Herrn Mylius übergeben und von ihm sein Geld fordern. Lothar kannte den Kameraden zur Genüge, um überzeugt zu sein, dass er den Vorsatz ausführen würde. Er sollte vierundzwanzig Stunden Frist haben; diese Zusicherung hatte er am Nachmittag von Robert erhalten, und nun war Ulrike seine letzte Hoffnung.
Ungeduldig ging er vor dem Haus in der Dorotheergasse auf und ab. Schon wollte er noch einmal in der Wohnung nachfragen, ob sie nicht inzwischen heimgekehrt sei, da kam sie mit ihren raschen Schritten auf ihn zu und blieb verwundert stehen. Zuerst berichtete er ihr, was zu Hause vorgefallen war. Sie schüttelte den Kopf, schaute auf die Uhr und sagte, sie werde gleich mit ihm gehen. Er hielt sie zurück. Er bat, sie möge ihm einen Augenblick Gehör schenken und mit ihm unters Tor treten. Sie horchte auf, witterte Unheil, zog ihn ins Haus, und er beichtete.
Ulrike schwieg eine Zeitlang. Den Übeltäter ein bisschen zappeln zu lassen, empfahl sich. So hatte es kommen müssen, so hatte sie vielleicht gewollt, dass es kam. Genaue Rechenschaft gab sie sich nicht. Es war eine dunkle Tatsache, die im Bereich der Kombinationen gelegen war und die ihr Fäden in die Hand spielte.
Sie fragte, was er mit dem Geld angefangen. Zögernd zählte er auf: soundsoviel habe er beim Konditor verbraucht, soundsoviel für heimliche Kaffeehausbesuche, soundsoviel für ein verbotenes Buch, soundsoviel für Handschuhe und eine neue Krawatte, die er zu Hause nicht einmal zeigen durfte.
„Kindskopf,“ sagte Ulrike; „und was sonst? Denken Sie nach.“ Ihr durchdringender Blick fing seinen fliehenden und unter Erröten und Erblassen bekannte er, er sei bei einem Mädchen gewesen, einer Statistin vom Carltheater, bei der ihn ein Mitschüler eingeführt.
Ulrike lachte verächtlich, und ihr Gesicht wurde finster. „Sind Sie mir böse?“ erkundigte sich Lothar mit zuckendem Mund.
Ulrike erwiderte: „Es ist nicht nett und es ist nicht sauber, wenn ein so hübscher Bursch zu Frauenzimmern geht, die er für ihre Liebe bezahlt. Pfui!“
Mit gefalteten Händen flehte er, sie solle ihm verzeihen. Sie solle ihm in seiner Not beistehen, sie sei der einzige Mensch, zu dem er Vertrauen habe; weise sie ihn ab, so sei er verloren und müsse sich erschiessen. Ulrike lachte ihn aus. Er war aber so reizend in seiner Bekümmernis, so pagenhaft schmiegsam als zerknirschter Sünder, dass sie ihn tröstete und aufrichtete und sagte, sie werde sichs auf dem Weg überlegen, jetzt müssten sie vor allem zu Esther und Aimée, damit denen in ihrem Unglück geholfen werde.
Während sie eilig an seiner Seite durch die beschneiten Gassen schritt, dachte sie an das Beisammensein mit Mylius, von dem sie eben kam. Sie hatte sein abendliches Retiro ausgespäht; sie wollte ihm einmal Aug in Aug gegenübersitzen, ihn einmal zeugenlos beobachten und daraus für die Zukunft ihre Schlüsse ziehen. Ein Unterfangen, das nicht den Schatten eines Argwohns in ihm wecken konnte. So war sie von ungefähr an seinen Tisch getreten, irrender Gast, hatte sich überrascht gestellt, ihn hier zu finden, sich bei ihm niedergelassen und ihre ganze Plaudergabe entfaltet, um ihn zu fesseln und mit einem Wort oder Blick aus sich herauszulocken. Vergeblich. Ebensogut hätte sie versuchen können, einen hundert Zentner schweren Felsblock vom Fleck zu rücken. Er hatte sein säuerliches Schmunzeln, nickte ihr bisweilen gnädig oder teilnehmend oder amüsiert zu, zeigte auch wohl sonst, dass ihm ihre Gesellschaft nicht gerade missfiel, aber einen andern Erfolg hatte ihre Bemühung nicht gehabt.
Trotzdem war sie befriedigt. Sie hätte nicht sagen können wodurch; doch gab es einige kleine listige, perfide Wahrnehmungen, die ihr Bürgschaft zu bieten schienen, dass der Felsblock nicht immer und ewig träge ruhen bleiben würde.
Das gab den Ausschlag für ihr Verhalten gegen Lothar, und nachdem sie alles reiflich erwogen, sagte sie, als sie im Myliusschen Hause angelangt waren und die Treppe hinaufgingen, zu dem ängstlich auf ihren Bescheid Harrenden, sie werde ihm die achtundvierzig Gulden vorstrecken, er solle sich das Geld morgen mittag bei ihr abholen und ihr dann die Dose bringen, von der sie vermutete, dass sie wertvoller war als dieser Betrag. „Wirklich? wahrhaftig und wirklich?“ rief er erlöst und hob das Gesicht mit strahlendem Ausdruck zu ihr. Sie mahnte ihn mit den Augen zur Vorsicht und erwiderte in hofmeisterndem Ton, sie hoffe, dass ihn ihre Gutwilligkeit vor weiteren Torheiten der Art bewahre. Er versprach es mit Eifer.
Um acht Uhr, pünktlich wie immer, war Mylius zum Abendessen nach Hause gekommen. Esther und Aimée erhoben sich; jede trat hinter ihren Stuhl; jede sah ihn an, furchtsam, bleich, schweigend. Sie wagten die Frage nicht zu stellen, die solche Fülle des Lebens für sie barg, Glanz und Wunder einer festlichen Nacht. Bittend kehrten sich Esthers Augen zur Mutter. Christine näherte sich ihrem Manne und flüsterte halb mutlos, halb im voraus begütigend: „Du hast die Ballkleider der Kinder weggenommen?“
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