Ein Mann in Uniform steht hinter dem Tresen. Er schaut mich an. Fragend. Ich lächele. Und wieder kommen die Tränen.
»Ich bin wieder da«, sage ich. »Ich bin Isabell Martin.«
Der Polizist zieht fragend eine Augenbraue nach oben. Mir wird bewusst, dass er ja vielleicht gar nicht weiß, wer ich bin, weil er nichts von meinem Fall gehört hat.
»Isabell Martin«, sage ich noch einmal. »Ich werde vermisst. Seit 527 Tagen.«
Der Mann nickt. »Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagt er. »Ich bin gleich bei Ihnen.«
Er tippt hektisch auf der Tastatur seines Computers herum – vermutlich gibt er meinen Namen ein. Als er den Kopf wieder vom Bildschirm abwendet, gleitet sein Blick zu meinen Füßen. Auch ich blicke auf meine Füße, meine nackten Füße. Wer flieht, muss gehen, wenn die Zeit bereit ist. Nur mit dem, was er am Leib trägt. Flüchtende nutzen Gelegenheiten, ohne auf Äußerlichkeiten zu achten. Ich habe es immerhin geschafft, den Mantel vom Haken zu reißen. Den Mantel, der nach ihm riecht.
Der Blick des Polizisten wandert weiter nach oben, bleibt stehen, starrt. Meine Hände halten sich gegenseitig, liegen in meinem Schoß, sind verhakt, verkrampft. Meine Hände, die voller Blut sind. Voller getrocknetem Blut.
»Haben Sie sich verletzt?«, fragt der Polizist.
Ich überlege, brauche einen Moment, doch dann fällt es mir wieder ein. Ich musste meinen Entführer … ich musste mich wehren … hatte gar keine andere Wahl.
»Nein«, antworte ich.
Er nickt, nimmt den Telefonhörer zur Hand und spricht leise mit irgendjemandem. Vermutlich, um meine Identität zu klären, und bestimmt, um meine Angehörigen zu verständigen.
Er legt auf, kommt um den Tresen herum, kommt direkt auf mich zu. »Der zuständige Beamte wird gleich Zeit für Sie haben.« Er lächelt – verständnisvoll, aufmunternd, nicht mehr fragend oder abschätzend.
Die Anspannung lässt allmählich nach, und ich spüre die bleierne Müdigkeit, die auf mich herabsinkt. Es ist, als würde sie mich erdrücken. Mir ist kalt, unendlich kalt. Ein Zittern erfasst meinen Körper. Ich versuche, es zu unterdrücken, versuche, keine Schwäche zu zeigen, doch es gelingt mir nicht. Stattdessen kommt die Erinnerung zurück, wie eine gewaltige Welle.
Sie erfasst mich und reißt mich mit sich. All das Adrenalin ist verschwunden, aufgebraucht, einfach fort. Ich schluchze. Ich will nicht zurück in die Erinnerung, zurück zu den letzten 527 Tagen. Denn diese Nacht ist eine Nacht der Freude, ab jetzt wird es nur noch helle Tage geben, glückliche Tage.
Ich spüre eine Berührung, zucke zusammen. »Nein, nicht«, schreie ich, springe auf und weiche zurück.
Es ist nur der Polizist, der lächelt, mir eine Decke um die Schultern legt. Eine goldene Rettungsdecke.
Wie passend, kommt es mir in den Sinn.
Er wartet, bis ich mich beruhigt habe, bis ich mich wieder auf den Stuhl setze. Dann kniet er sich vor mich hin wie ein Prinz vor seiner Prinzessin, so wie bei Aschenputtel. Er betrachtet meine dreckigen Füße, hält Wollsocken in der Hand und nickt mir aufmunternd zu.
Wo hat er die her? Halten Polizeireviere warme Strümpfe für Menschen, die verschwunden waren und ohne Schuhe zurückkehren, bereit?
»Danke«, sage ich, aber es klingt mehr nach dem Krächzen einer bösen Hexe als nach Aschenputtel.
Er hält die eine Socke tatsächlich so, dass ich mit dem Fuß hineinschlüpfen kann, danach die zweite. Nachdem meine Füße versorgt sind, steht er auf. Erst jetzt sehe ich, dass sich hinter dem Tresen zwei weitere Beamte eingefunden haben. Sie schauen mich an, als wäre ich etwas ganz Besonderes. Ja, das bin ich. Ich bin die, die es geschafft hat, die Frau, die entkommen ist.
»Frau Martin?«
Die Stimme der Frau trifft mich völlig unvorbereitet. Wieder zucke ich zusammen. Ich habe sie nicht kommen sehen, die Frau in Jeans und weißer Bluse. Aber sie lächelt, so, wie der Polizist gelächelt hat. Und sie zeigt mit der Hand auf einen Flur mit vielen Türen, einen Flur, den ich ebenfalls noch nicht wahrgenommen habe.
»Mein Name ist Dr. Hofner«, sagt sie. »Ich bin Psychologin. Es ist alles in Ordnung. Kommen Sie bitte, wir möchten Ihre Aussage aufnehmen.«
Sie geleitet mich in ein Zimmer – PVC-Boden, ein Tisch mit vier Stühlen, eine Neonröhre – und bittet mich, Platz zu nehmen.
»Ich möchte nach Hause.« Ich bleibe an der Tür stehen.
»Das verstehe ich sehr gut«, sagt sie. »Doch wir brauchen Ihre Aussage. Die ist für uns sehr wichtig. Das verstehen Sie sicher.«
Natürlich verstehe ich das, sie müssen schließlich meinen Entführer festnehmen. Er muss bestraft werden. Für das, was er mir angetan hat. Also gehe ich hinein, in diesen Raum, der mehr nach Zelle aussieht, und setze mich.
Die Frau setzt sich mir gegenüber. Wie war ihr Name doch gleich? Ich habe es vergessen. Ob ich nachfragen soll?
Ich frage nicht, denn es ist nicht wichtig. Bald bin ich wieder zu Hause, und alles andere spielt keine Rolle.
Nun betritt ein Mann den Raum, er stellt sich als irgendein Kommissar vor. Er lächelt nicht, sondern ist sehr ernst. Auf den Tisch legt er Papiere. Sicher meine Akte. Meine Vermissten-Akte.
»Frau Martin«, sagt er. »Können Sie …«
Martin. Ich weiß, dass ich es bin, und trotzdem bin ich mir unsicher. Weil mich so lange niemand mehr so genannt hat. Weil …
»Frau Martin?« Der Polizist schaut mich fragend an.
»Entschuldigung«, sage ich automatisch und merke selbst, dass ich den Kopf einziehe. »Ich wollte Sie nicht verärgern. Ehrlich.«
Nun lächelt auch der Polizist. Keine fiese Fratze, sondern ein warmes Lächeln. Und diese Wärme kommt bei mir an. Berührt mich. »Es ist alles gut«, sagt er.
Gut, hallt das Echo in mir nach, und ich spüre, wie sich meine Muskeln allmählich wieder entspannen. Alles wird gut.
»Können Sie mir sagen, was in den letzten Tagen passiert ist?«
»In den letzten 527 Tagen? Ich kann nicht … ich meine …« Ich breche ab, starre auf meine Hände.
»Sie sind hier in Sicherheit, Frau Martin«, versichert er mir. »Können Sie mir sagen, was in den letzten Stunden passiert ist? Wo waren Sie in den letzten Stunden? Wie sind Sie hierhergekommen?«
Ich schließe die Augen, atme tief ein und wieder aus und versuche, der Angst, die in jedem Winkel meines Körpers und meiner Seele sitzt, die gegen die Freude der Freiheit kämpft, Herr zu werden.
»Er kann dir nichts tun«, flüstere ich und lasse die Bilder der Vergangenheit auf mich zurasen. Bedrohlich wie ein ganzes Heer von Kriegern, die mich vernichten wollen. Aber ich lasse mich nicht vernichten, ich bin in Sicherheit. Alles wird gut.
»Die letzten Stunden, sie waren wie immer. Ein fester Ablauf. Kein Abweichen. Immer genau dasselbe. Ich war im Kellerraum eingesperrt. Ein Kellerraum aus roten Backsteinen und mit einem Betonboden. Mit einer blauen Eisentür, die so einen Schlitz hatte. Zum Reinschauen … zum …« Es ist so heiß hier. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht …
»Trinken Sie einen Schluck Wasser«, sagt diese Ärztin. Das war sie doch, eine Ärztin. Oder? Wie hieß sie noch mal?
»Frau Martin, trinken Sie.« Sie schiebt einen weißen Plastikbecher über den Tisch.
Ich blicke von ihr zu ihm, schaue zur Tür und dem Mann in Uniform, der dort steht. Es sind drei. Drei Personen, die mich beschützen können. Vor ihm. Ich trinke. Schnell. Dann bin ich schneller zu Hause.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagt der Polizist.
Hatte er mir seinen Namen überhaupt gesagt? Aber eigentlich ist das egal, denn eigentlich sind Namen nicht wichtig.
»So eine Klappe, in der Tür«, wiederholt er meine Worte.
Ich nicke. »In der Wand, gegenüber der Tür, war ganz oben ein schmaler Streifen. Ein kleines Fenster. Ich kam nicht dran. Der Raum muss fünf oder sechs Meter hoch gewesen sein. Ein Keller. Verstehen Sie? Ein düsterer Kerker aus rotem Backstein.«
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