Peter Terrin - Blanko

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Viktor verliert bei einem brutalen Überfall seine Frau und ist nun allein für den gemeinsamen Sohn Igor verantwortlich, um den er sich mit großer Hingabe kümmert. Doch angesichts der traumatischen Ereignisse wächst seine Sorge um Igors Wohlergehen von Tag zu Tag. Schon die Schule ist ja theoretisch ein Gefahrenherd, weshalb Viktor den Jungen mit dem Taxi hinbringt, sicher ist sicher. Aber wie ist es möglich, dass jedermann einfach so das Schulgelände betreten kann? Und was hat es mit Igors eigentümlichem Klassenlehrer auf sich? Durch das zunehmend obsessive Verhalten seines Vaters wird Igor schließlich vom Schulbetrieb ausgeschlossen, aber das kommt Viktors Sicherheitsbedürfnis nur entgegen. Er richtet fortan ihr Leben darauf aus, die eigene Wohnung nicht mehr verlassen zu müssen …
Peter Terrin erzählt die Geschichte eines schleichenden Kontrollverlusts so überzeugend, dass selbst das absurdeste Verhalten schlüssig wirkt. Die übertriebene Fürsorge von Eltern ist genauso ein Phänomen der heutigen Zeit wie unsere wachsenden Probleme, der eigenen Ängste Herr zu werden.

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Peter Terrin Blanko Roman Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten Dieses - фото 1

Peter Terrin

Blanko

Roman

Aus dem Niederländischen

von Rainer Kersten

Dieses Buch wurde mit Unterstützung von Flanders Literature herausgegeben - фото 2

Dieses Buch wurde mit Unterstützung von Flanders Literature

herausgegeben ( flandersliterature.be).

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»Blanco« im Verlag De Bezige Bij, Amsterdam und Antwerpen.

© Peter Terrin 2003 ©

Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2021

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Trevor Payne / Arcangel

Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-129-6

Für V .

Am Tag nach Allerseelen wurde Helena begraben.

Viele Leute, die angesichts des stürmischen Wetters der vergangenen Feiertage zu Hause geblieben waren, kamen heute mit ihren Töpfen mit gelben und weißen Chrysanthemen. Viktor fühlte sich beobachtet; die Beerdigung auf dem neu eingeebneten Feld in der Nähe des Eingangs wirkte wie eine PR-Aktion der Friedhofsverwaltung: taufrischer Schmerz, damit auch die Nachzügler ihren alljährlichen Besuch stimmungsvoll begehen konnten.

Die vier Männer ließen den Leichnam in die Erde hinab. Sie waren Fachleute, der Eichenholzsarg sank feierlich in die perfekt rechtwinklig ausgehobene Grube.

Seine Schwester Eveline drückte sich ein Taschentuch vors Gesicht.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Viktor bei den Vorübergehenden auf dem Hauptweg ein gewisses Zögern. Ab und zu erreichte ihn ein Frauenduft, intensiv und blumig, ein Geruch, bei dem Kinder sich jahrelang geborgen und sicher wähnen können.

Helenas Eltern fassten sich verstohlen an der Hand, während sie regungslos in der Reihe verharrten, den Blick ins Unendliche gerichtet. Rechts schloss der Pastor die Augen und murmelte vor sich hin. Mit beiden Händen hielt er eine Bibel, genau vor die Schamgegend. Er hatte Wurstfinger mit schwarz behaarten Knöcheln, einer davon steckte obszön im vergoldeten Buchschnitt. Viktor war sich sicher, dass dieses Bild ihn bis zu seinem Tod verfolgen würde. Ein Menschenleben, so erschien es ihm immer, quoll über von Erinnerungen, die einem von Umständen aufgezwungen wurden.

Der Sarg kam auf dem Boden des Grabes auf. Die vier Männer streckten den Rücken und traten demütig beiseite.

Einen Moment blieb es still. Man wartete auf die Worte des Pastors.

Sonntägliches Gestöckel auf dem Asphalt.

Viktor beugte sich vor. Die Grube hatte kerzengerade Wände und war mindestens zwei Meter tief, sie auszuheben war bestimmt kein Zuckerschlecken gewesen. Er ging in die Knie, um sich das Ganze genauer anzusehen. Die Welt wäre um einiges besser, wenn jeder seine beruflichen Pflichten mit Stolz und Hingabe ausüben würde.

Er spürte Evelines Hand auf seiner Schulter. Schräg über seinem Kopf hörte er sie schluchzen, während er es einfach nicht fertigbrachte, den Blick von dem einsamen Sarg in der Grube zu lösen.

Wer konnte ihm garantieren, dass Helena wirklich da unten lag? Drei Tage zuvor hatte er sie in der Aufbahrungshalle gesehen, mit wiederhergestelltem Gesicht, die Hände wie zum Gebet gefaltet, aber nicht heute, nicht hier. Es war ja bekannt, dass Leichen gestohlen und verkauft wurden, aus den verschiedensten Gründen. Man hörte die abartigsten Geschichten.

Viktor wandte sich an den älteren Mann, der die Trauerfeier bisher mit sicherer Hand geleitet hatte. Wie seine Untergebenen trug er eine dunkelgraue Uniformmütze mit schwarz glänzendem Schirm.

»Sind Sie sicher, dass meine Frau in dem Sarg liegt?«

Nur langsam drang die Frage voll und ganz zu dem Mann durch; statt einer Antwort konnte er nur mit offenem Mund dastehen. Seine Arme kamen hinter dem Rücken hervor und schlenkerten hilflos an seinem Körper.

Neben Viktor ging Eveline nun gleichfalls im herbstlichen Laub in die Knie und umschlang seinen Kopf. Sie drückte ihm ihre Lippen auf Schläfe und Ohr. Sie tröstete ihn, als würde er genauso laut schluchzen wie sie.

Das Restaurant lag inmitten einer Reihe bescheidener Bürgerhäuser. Die Fassade war unauffällig; bis auf eine hoch aufschießende Pflanze in einem Terrakottakübel neben dem Eingang wies nichts auf gastronomische Tätigkeit hin. Nur mühsam konnte Viktor sich des Eindrucks erwehren, dass man die beeindruckende Pflanze speziell für diese Gelegenheit gemietet hatte.

Der Empfang war unpersönlich, und der Gastraum verströmte ein Flair altmodischer Feierlichkeit. Helenas Mutter, die das Restaurant ausgesucht hatte, postierte sich zur Begrüßung als Einzige vor den vergilbten Jagdszenen und dem fadenscheinigen Wandteppich, die Hände auf dem Rücken.

Die Gerichte wurden unter Warmhalteglocken aufgetragen. Als alle Teller auf dem Tisch standen, kam die Restaurantchefin, um zusammen mit den Kellnern im gleichen Moment das Gericht zu enthüllen, aber das Spektakel war wenig beeindruckend und das Essen nur noch lauwarm. Bei einer Cousine am Ende des Tischs fehlte das Gratin dauphinois; sie errötete. Angesichts der Umstände fand niemand es nötig, deswegen zu reklamieren, außer Viktor. Tränen traten ihr in die Augen vor Scham, als die Restaurantchefin ihr den Teller wegnahm.

Es dauerte ein paar Gläser Rotwein, bis die ersten Gespräche in Gang kamen. Links von Viktor saß Eveline, rechts Igor. Sein Sohn hatte die Ente kaum angerührt, nur ein Bündchen Prinzessbohnen war in seinem Mund verschwunden.

Viktor nahm seine Hand.

Bleich und erschöpft blickte der Junge auf. Er legte den Kopf an den Arm seines Vaters und fragte leise, wann sie nach Hause gehen würden.

Nach dem Dessert wurde die Kakofonie schwatzender Menschen so anstrengend, dass es auf diejenigen, die nicht daran teilnahmen, nur noch ermüdend wirkte.

Benommen starrte Viktor aus dem Fenster.

Auf der anderen Straßenseite öffnete ein ungefähr sechzigjähriger Mann sein Garagentor. Zusammen mit seiner Frau holte er Einkäufe aus dem Kofferraum eines japanischen Kleinwagens. Sie arbeiteten zielstrebig im Team und wechselten kein Wort miteinander. Ein weißes Malteser-Hündchen schaute von der Fensterbank des Wohnzimmers brav zu und verschwand, als der Mann das Garagentor zuklappte.

Helena liegt mit dem Kopf auf dem Bordstein. Ihr kastanienbraunes Haar ist zu einem eleganten Knoten geschlungen, eine Aura zart gekräuselter Härchen umgibt die glatte Frisur. Schwere Stiefel haben ihr das Gesicht zertreten, und das Genick ist gebrochen. In der reglosen Nachtluft hält sich ein Geruch nach verbranntem Gummi.

Plötzlich schiebt ihre Zunge das blutige Stück Fleisch aus dem Mund, das sie einem der Autodiebe aus dem Arm gebissen hat. Sie bricht in unbändiges Lachen aus. Hinter dunklen Fenstern wird Licht angeschaltet. Leute im Pyjama schieben Vorhänge beiseite und greifen zum Telefon, mindestens zehn Anwohner zugleich! Helena muss sich die Hand auf den Bauch legen, so sehr muss sie lachen.

Viktor fuhr hoch, ohne jedes Bewusstsein für Ort und Zeit. Die Leselampe brannte noch. Schnell erkannte er das Schlafzimmer, die Kohlezeichnung einer Schneelandschaft, den Rattanstuhl mit der Trauerkleidung, das Buch in den Händen.

Dann wie ein Schlag ins Gesicht die Erinnerung.

»Papa?«

Zögernd öffnete sich die Tür.

»Warum schreist du so, Papa?«

Igor hatte geweint, man hörte ein Schluchzen in seiner Stimme.

»Na, komm.«

Schnell zog Igor vor dem Dunkel des Flurs die Tür hinter sich zu. Er trippelte über den kalten Fußboden und sprang aufs Bett, worüber Viktor unwillkürlich lächeln musste.

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