So war es Viktor eigentlich auch lieber.
Seit gut acht Jahren arbeitete Viktor als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kategorie A, beim Gesundheitsministerium. Kurz nach Ende des Studiums war er für eine der wenigen Stellen auserwählt worden. Er wurde in einem Dauerprojekt zu den Folgen der Umweltverschmutzung auf Mikroniveau eingesetzt. Als Zellbiologe sichtete und untersuchte er zahllose tierische Proben aus Industriegebieten, Städten sowie von landwirtschaftlichen Flächen.
Seine Aufgabe bestand darin, die Zellmembranen zu kontrollieren, insbesondere die endozytären Invaginationen, kleine Einstülpungen oder Höhlen, die sich mit Nahrungsbestandteilen füllen, aber auch mit giftigen Stoffen und inerten Substanzen, um sich dann tiefer einzustülpen, abzuschnüren und ein Phagosom zu bilden, ein Bläschen, das sich von der Membran löst und durchs Zytoplasma schwebt. Bei Störungen der Phagozytose, dem zellulären Verdauungsprozess, konnten Giftstoffe aus dem Fresskörperchen freikommen, ins Zytoplasma gelangen, wo sie eine ernsthafte Bedrohung für den Nukleus, den Zellkern, darstellten.
Am Anfang hatte Viktor sich für eine Art Hercule Poirot der Zellwissenschaft gehalten. Bis ihm eines Tages eine mutierte Zelle unter das Mikroskop kam. Er war total aus dem Häuschen, aber der damalige Chef, ein Mann mit grauem Ringbart auf violett geäderten Wangen, zitierte trocken Paragraf 23 und 25 des Einstellungsvertrags, den Viktor mit dem staatlichen Arbeitgeber geschlossen hatte. Danach erhielten wissenschaftliche Mitarbeiter der Kategorie A unter keinerlei Umständen Informationen über die Herkunft der Proben. Kategorie A wurde prinzipiell auch nie an der weiteren Untersuchung beteiligt. Dies war Aufgabe der Sektion B, einer kleinen Gruppe von Auserkorenen, die in Brüssel arbeitete. Der Chef versäumte ebenfalls nicht, Viktor auf Paragraf 1 hinzuweisen, der festlegte, dass ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kategorie A, zur beruflichen Verschwiegenheit verpflichtet sei und dass bei Zuwiderhandlungen Gefängnisstrafe drohe.
Seither wusste Viktor, dass er kein wissenschaftlicher Detektiv war, höchstens ein qualifizierter Beobachter. Er stellte fest. Wie ein Schalterbeamter beim Einwohneramt feststellt, dass ein wichtiger Stempel fehlt, und den betreffenden Bürger an eine andere Stelle verweist.
Auf die Frage nach seinem Beruf antwortete er immer häufiger: »Wissenschaftlicher Beamter«.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen in anderen Ministerien hatte Viktor auch nach achtjähriger Dienstzeit kaum Aussicht auf eine Beförderung: Es kamen noch zwei Kategorie-A-Kollegen vor ihm, und beide erfreuten sich bester Gesundheit. Außerdem war allgemein bekannt, dass Sektion B in Sachen Stellenbesetzungen nur teilweise an die staatliche Laufbahnverordnung gebunden war.
Heute Morgen jedoch war ihm das alles herzlich egal.
Nach zwölf Tagen richtete Viktor den Blick endlich wieder durchs Mikroskop. Fast mit einem Gefühl des Nachhausekommens erkannte er einen Cluster von fünf Zellen. Seine Mundwinkel zuckten beim Wiedereintauchen in diese übersichtliche Welt, die ihm so durch und durch vertraut war.
Meine Arbeit mag ja vor allem aus Routine bestehen, dachte Viktor gelegentlich in einer versöhnlichen Anwandlung, aber ist es kein Vorrecht, sich Tag für Tag mit den Grundbestandteilen des Lebens befassen zu dürfen? Und dieses Leben gegen Angriffe von außen zu schützen, ist das keine bedeutende Aufgabe?
Darüber hinaus bezog er ein beachtliches Gehalt, nie würde es Igor an irgendetwas mangeln.
Gott sei Dank plagten ihn keine himmelstürmenden Ambitionen, denen er manche Kollegen kopflos hinterherstürzen sah. Das schien ihm ein Graus. Hatten diese Leute noch eine einzige ruhige Minute?
Der zweite Tag im Labor verlief zäher. Kurz vor der Mittagspause mogelte sich Viktor nach draußen und rief ein Taxi.
Nach dem Läuten der Schulklingel kehrte die Stille zurück, als sei der gellende Lärm gänzlich grundlos erfolgt.
Dann aber drang aus dem Innern des Gebäudes ein Rumoren. Wenige Sekunden später war der Schulhof ein einziges heilloses Durcheinander aufgedrehter Kinder mit offenen Jacken und schief sitzenden Mützen. Ein gutes Dutzend Mütter am Tor reckte die Hälse.
Als Viktor endlich allein übrig blieb, hatten sich vor der Kantine lockere Gruppen gebildet, zwischen denen ein paar Jungen sich die letzten Reste aufgestauter Energie aus dem Leib rannten.
Keiner machte Anstalten, das Tor in der Mauer abzuschließen oder auch nur anzulehnen, nicht mal die Lehrkräfte, die außerhalb aßen und für die es doch eine Kleinigkeit gewesen wäre. Sie gingen achtlos an Viktor vorüber, ohne ihn erstaunt oder auch nur fragend anzusehen.
Ein Mädchen kam verträumt angeschlendert. Sie trug seitlich hochgesteckte Zöpfe. Sie schwenkte die Schultasche. Viktor als Einziger sah, wie sie langsam durchs Tor ging, nach draußen. Sie war sieben oder acht.
Während die Kinder im Speisesaal aßen, hätte er in Unterhose quer über den Schulhof laufen können und wieder zurück.
Am dritten Nachmittag überwand Viktor die mentale Hemmschwelle, die trotz fehlendem Wachschutz natürlich da war, physisch aber niemanden abwehren konnte.
Er ging durch die ausgelassene Menge. Als er sich zu dem kleiner werdenden Tor umdrehte, kam es ihm vor, als sei er durch einen ganzen Ozean gewatet.
Die Kinder gingen völlig in ihren Spielen auf, so unbekümmert, dass Viktor einen gewissen Neid verspürte. Für sie war er einfach irgendein Erwachsener auf dem Schulhof, der hatte schon seine Gründe, nichts, um das man sich Sorgen machen musste.
Die Aufmerksamkeit der zwei Lehrer wurde offenbar von einem organisatorischen Problem am Speisesaaleingang in Anspruch genommen; hektisch hantierten sie mit Stift und Papier.
Ungefähr zehn Meter entfernt sah er Igor, über die Schulter eines Kameraden gebeugt, der in der Hocke kauernd etwas auf den Betonboden malte. Zwei Arm in Arm gehende Mädchen beobachteten sie aus einiger Entfernung, das eine hoch aufgeschossen und eher verlegen, das andere klein und schon am Anfang der Pubertät. Viktor wandte sich ab, damit Igor ihn nicht entdeckte, und hastete zum Eingang.
In dem langen, geraden Flur hing ein Geruch nach Bohnerwachs und Topfpflanzen, den er noch von seinem letzten Besuch kannte. Er betrat ein x-beliebiges Klassenzimmer, erwartete halb einen Lehrer, der den Nachmittagsunterricht vorbereitete. Vom Podest vor der Tafel aus schaute er auf die Pulte hinunter; das Holz seiner Schulzeit war bemaltem Metall und braunem, geprägtem Kunststoff gewichen. An den Wänden des weiß gestrichenen Raums verlief ein Streifen Korkpappe wie eine bunte Schleife um ein Geschenk, auf den Zeitungsausschnitte gepinnt waren.
Etwas weiter entfernt rannte jemand durch den Gang, die Schritte kamen schnell näher, ein Junge schoss an der Türöffnung vorbei. Am Ende des Flurs konnte er kaum bremsen, die Tür schlug mit einem Knall zu.
Viktor war wieder allein in seiner eigenen Stille. Vor Nervosität musste er auf einmal dringend pinkeln. Ihm fiel ein, wie seltsam es war, dass Einbrecher in den von ihnen heimgesuchten Häusern niemals pinkelten. Vielleicht taten sie das, aber dann auf der Toilette und nicht einfach so an die Wand im Wohnzimmer. Vielleicht wurden solche Details aber auch nur nie gemeldet.
Unbemerkt erreichte Viktor den ersten Stock. Er hörte, wie sich im Erdgeschoss der Speisesaal füllte. Während er in aller Gemütsruhe auf der Suche nach einem Heft oder einem Buch mit Namensaufkleber die Pulte öffnete, dachte er an seinen ursprünglichen Plan, irgendwo im Gebäude ein Päckchen mit der Aufschrift »Bombe« zu deponieren. Er war froh, dass er den Plan aufgegeben hatte. Sie hätten ihn für verrückt oder kindisch gehalten, und das hätte von seinem eigentlichen Anliegen abgelenkt.
Mit Emma Vercauterens Notizheft unter dem Arm durchsuchte er das Lehrerzimmer im zweiten Stock. Jemand aus dem Kollegium rauchte Pfeife, die Sorte, die einen sanften und edlen Geruch verbreitet, den auch Nichtraucher mögen. Doch in den Schränken und Schubladen fand er weder Pfeifen noch Rauchutensilien. Zu guter Letzt nahm er einen Stapel Kaffeefilter mit.
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