»Komm unter die Decke.«
Der Junge zögerte, sich auf den Platz seiner Mutter zu legen, doch Viktor hielt die Steppdecke hoch und nickte ihm aufmunternd zu.
Viktor ließ die Leselampe brennen, bis Igor ruhig schlief. Danach starrte er in die Schneelandschaft, die sich über dem Fußende des Betts vage abzeichnete. Er lauschte der Stille der Nacht. Er versuchte, an nichts zu denken, doch dazu war seine aufgewühlte Fantasie einfach nicht fähig.
Um Viertel nach acht wurde Viktor von der Türklingel geweckt. Das Licht im Zimmer war dämmrig, vermutlich ein grauer Tag draußen. Er blieb regungslos liegen, in der seltsamen Position, die er im Schlaf eingenommen hatte. Sein Arm verlangte kribbelnd nach Blut.
Erst als es ein drittes Mal klingelte, schlüpfte er in die Kleidung, die er über den Stuhl gehängt hatte, und schlurfte durch den langen Flur zur Sprechanlage.
Es war Eveline.
Sie umarmte ihn innig, sah ihm forschend in die Augen. »Hast du ein bisschen geschlafen?«
»Ich glaub schon«, antwortete er. »Und du?«
Eveline zuckte die Schultern und seufzte.
»Schläft Igor noch?«
»Nein«, rief Igor heiser.
»Muss er heute nicht in die Schule?«
»Es ist noch zu früh. Die kommen schon ein paar Tage ohne ihn aus.«
In der Küche legte Eveline ihren Mantel ab und setzte Kaffee auf. Sie hatte ein Vollkornbrot mitgebracht, lecker und dazu noch gesund. Sie öffnete Schränke und Schubladen, auf der Suche nach Essen und Geschirr für das Frühstück. In den vergangenen Tagen hatte Igor bei Opa und Oma geschlafen, jetzt fand Eveline es offenbar an der Zeit, dass sie sich um ihren Neffen und ihn kümmerte.
»Das brauchst du nicht«, sagte Viktor, als sie sich auch noch ans Abwaschen machte.
»Du bist mein Bruder.«
Die Erwiderung kam so schnell, dass es sich anhörte, als habe sie sich vorbereitet, sich dieses einfache und aufrichtige Argument vorher zurechtgelegt, ein Argument, gegen das er nichts einwenden konnte.
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Ihre Augen waren stärker geschminkt als sonst, aber das konnte die Ringe darunter nur schwach überdecken.
Viktor dachte an früher, als sie sich in einer Tour in den Haaren gelegen hatten, eine furchtbare Zeit voller Bosheit und Missgunst, die nicht zufällig mit ihrer Pubertät und dem Studium zusammengefallen war. Danach war es Schritt für Schritt besser geworden. Im Bewusstsein, nun mal Geschwister zu sein, waren sie offener füreinander geworden, wuchsen zusammen und respektierten ihre gegenseitigen Eigenarten. Dies alles vollzog sich weitgehend unausgesprochen, wodurch eine tiefe Verbundenheit entstand, die möglicherweise nie mehr enden würde.
Eveline war jetzt dreiunddreißig und lebte wieder allein. Acht Jahre lang war sie mit dem Falschen zusammen gewesen. Viktor war sechsunddreißig. Helena lag noch keine vierundzwanzig Stunden unter der Erde.
Der Heizkörper knackte, im brodelnden Wasser stießen die Eier siedend gegen die Wand des Kochtopfs.
»Trotzdem will ich nicht, dass du morgen kommst«, sagte Viktor ruhig. »Nicht wegen so was.«
Eveline nickte, trocknete weiter ab und verstaute sorgfältig alles an seinem Platz. Nach dem Frühstück stellte sie Igor unter die Dusche und legte Anziehsachen für ihn zurecht. Sie ging mit dem Staubsauger durch die Wohnung. Um halb elf trank sie mit Viktor eine letzte Tasse Kaffee. Auf dem Küchentisch fasste sie seine Hand.
Nach drei Tagen relativer Ruhe in seinem fünften Stock stand Viktor wie festgenagelt auf dem Bürgersteig. Es war acht Uhr morgens, und die Stadt raste wie eine infernalische Maschine.
Igor brachte ihn wieder in Bewegung und lotste ihn.
Einmal im Strom der Passanten, wurde die Hektik erträglicher, jedenfalls weniger anstrengend für die Augen. Der instinktive Impuls, sich vor dem frenetischen Autoverkehr, der zwischen den hohen Fassaden schrill widerhallte, die Ohren zuzuhalten, blieb.
Die ganze Zeit über liefen sie zwischen denselben Personen. Auf der anderen Straßenseite bewegte die Menge sich in entgegengesetzter Richtung. Ein fantastischer Dokumentarfilm über Verhalten und Eigenschaften großer Gruppen von Lebewesen hatte ihn gelehrt, dass sich so etwas automatisch ergibt, dass sowohl Stare als auch Flamingos, Heringe und Menschen über wundersame Organisationsinstinkte verfügen, sobald die Umstände dies erfordern.
In unmittelbarer Umgebung war Viktor der einzige Erwachsene mit einem Kind an der Hand. Die meisten hasteten zur Arbeit. Auch viele Schüler. Er war verblüfft, wie genau die aktuelle Mode befolgt wurde: überall weite Hosen, Bonbonfarben und strubbelige Gelfrisuren, und obwohl die Jungen und Mädchen sich damit zweifellos höchst individuell vorkamen, wirkte das Ganze auf Viktor wie eine Uniform.
Bei der zweiten Kreuzung bogen sie links ab. Sobald sie den Weg Richtung Zentrum verlassen hatten, ließ das Gedränge auf dem Bürgersteig nach.
In einem Hauseingang las ein zerlumpter Mann Zeitung, während er auf unappetitliche Weise an einem belegten Brötchen knabberte. Er lag auf der Seite, auf den Ellenbogen gestützt, sodass es aussah, als liege er auf dem Sofa und nicht auf kaltem Stein.
Plötzlich zog Igor Viktor am Arm.
»Da!«
Er zeigte auf eine Straßenbahnhaltestelle am Fuß des Kirchturms, rund hundert Meter entfernt.
»Da ist es!«
Viktor spürte, dass Igor sich von ihm losmachen wollte.
Vor seinem inneren Auge blitzte das Bild von Helena auf, wie sie mit traurigem Lächeln in der Tür stand. Sie hatte ihm erzählt, dass Igor sich seit ein paar Tagen zu groß dafür fühlte, an der Hand seiner Mutter zu gehen. Sobald die Leute an der Haltestelle in Sicht kamen, riss er sich los und ging zwei Meter vor ihr.
Viktor umklammerte Igors Hand noch fester.
»Hiergeblieben!«, fuhr er ihn an.
»Ich wollte dir nur zeigen, wo es ist.«
»Das sehe ich schon selbst.«
Neben dem verglasten Unterstand verabschiedeten sie sich. Igor flog seinem Vater um den Hals und küsste ihn auf die Wange. Viktor roch Trinkjoghurt in seinem Atem, was ihn bis ins Mark rührte. Er ließ sich von Igor feierlich versprechen, dass er in der Schule gut aufpassen werde.
Dreimal drehte Viktor sich um und winkte. Die Gesichtszüge des blonden Jungen verblassten, Viktor konnte nur noch die Hand unterscheiden, die aus der Tasche der Daunenjacke herausfuhr und beherzt zurückwinkte.
Ungefähr zwanzig weit Meter musste Viktor sich auf seine Schritte konzentrieren: So gelang es ihm, die in ihm aufwallende Rührung zu unterdrücken.
Die Sonne brach durch die Wolken. Der schwarze Anzug, den er seit der Beerdigung jeden Tag trug, saugte das Licht auf und wärmte ihm Schultern und Rücken.
Vor dem Hauseingang von eben verunzierte fettiges, zusammengeknülltes Papier den Fußweg. Der Obdachlose hatte sein Brötchen verputzt. Mayonnaise klebte ihm an Schnauzer und Kinnbart, und einen Moment musste Viktor an einen Hund denken, einen dummen, aber gefährlichen Hund, der einen lange und scheinbar gleichgültig beobachtete, um plötzlich, wie aus dem Nichts, gemein anzugreifen.
Viktor war am Eingang beinah vorüber, als der Obdachlose mit einem merkwürdigen Grinsen die Zähne bleckte. Erst eine Ecke weiter, zurück im Gedränge, ging Viktor auf, worin das Merkwürdige dieses Grinsens gelegen hatte: Der Mann hatte makellose, strahlend weiße Zähne.
Vielleicht war er erst kürzlich auf der Straße gelandet.
Vielleicht hatte er sich bewusst für die Obdachlosigkeit entschieden, um einer begüterten, aber hektischen Existenz zu entfliehen.
Zu Hause setzte Viktor Kaffee auf. Nachdenklich stand er vor dem Fenster. Der Himmel war tiefgrau verhangen, nur hier und da sah man vereinzelt hellere Partien, die schnell über einen hinwegzogen. Vier verspielte Möwen hingen fast regungslos in der Luft, verfolgten einander in schwindelerregenden Manövern, um dann wieder elegant stehen zu bleiben.
Читать дальше